Verbindungshaus Austria

Josef-Hirn-Straße

Flagge Kaiserjägermuseum Innsbruck
Wissenswert

Das schmale Gebäude mit der auffälligen Fassade in der Josef-Hirn-Straße beheimatet Innsbrucks größte Studentenverbindung, die Austria. Neben dem Eingang ist eine Bronzetafel angebracht, die an das Gründungsdatum der Verbindung am 9. Juni 1864 erinnert. Auch ihr Leitspruch „In Veritate Libertas“ (Anm.: In der Wahrheit liegt die Freiheit) ist hier festgehalten. Die „Bude“ der  Austria selbst ist jüngeren Datums. Das Haus wurde von den Burschen 1902 selbst finanziert und gebaut. Auf alten Bildern kann man sehen, dass es anfangs ein alleinstehendes Haus war und erst nach und nach von anderen Häusern umrahmt wurde. Es sticht zwischen den Wohnhäusern mit seinem distinguierten Aussehen, den Türmchen und Erkern markant heraus. Während des Ersten Weltkriegs diente es als Militärspital. Heute befinden sich mehrere Stüberl, Bars und Räumlichkeiten, um gemeinsam zu lernen und feiern, im Verbindungshaus.

Wie kam es zur Gründung der Austria? Im 19. Jahrhundert wurden auch an der Innsbrucker Universität liberale, nationalstaatliche Begehrlichkeiten unter Studenten und Professoren immer populärer. Die Universitätsangehörigen forderten bürgerliche Freiheiten, eine freie Presse und eine Verfassung. An der althergebrachten Feudalordnung wurde mehr und mehr zu Gunsten eines modernen Staats nach dem Vorbild Frankreichs und Englands gerüttelt. Es waren vor allem Studenten, die 1848 die Befürworter der in Innsbruck zahm ausgefallenen Revolution waren. Während sich konservative Untertanen bei den Schützen zu paramilitärischen Verbänden zusammenschloss, erfreuten sich unter Akademikern die Verbindungen großer Beliebtheit.

Innerhalb des Verbindungswesens gab es verschiedene Ausprägungen, die sich bis heute erhalten haben. Die Mehrzahl der österreichischen Verbindungen hat einen katholischen Hintergrund. Es gibt aber auch die schlagenden Verbindungen, die politisch weit am rechten Rand angesiedelt sind. Die meisten nehmen bis heute keine Frauen in ihren Reihen auf. Sie sind hierarchisch organisiert und funktionieren über eigene Rituale. Die bis heute gültigen vier Grundsätze der Austria sind der katholische Glaube (Religio), Vaterland (Patria), Wissenschaft (Scientia) und Freundschaft (Amicitia).

Katholische Studentenverbindungen bildeten ab dem 19. Jahrhundert das verbindende Element zwischen Kirche, Politik und Universität. Zwar sollte ein starker, zentralisierter Staat ähnlich dem in Frankreich an die Stelle des in Kleinstaaten zersplitterten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation oder den Deutschen Bund treten, eine demokratische Republik wurde kaum gefordert. Katholizismus, Monarchie, Vielvölkerstaat, Deutschnationalismus – die Definitionen von Vaterland waren vielfältig innerhalb der verschiedenen Studentenbünde. Der Eingangsbereich des Verbindungshauses der Austria, auf dem der Habsburgische Doppeladler und der Tiroler Adler abgebildet sind, gibt einen Hinweis auf die Ausrichtung dieser Verbindung.

Studentenverbindungen sind mächtige Seilschaften. Wirft man einen Blick auf die Liste ehemaliger Mitglieder der Austria, findet man durch die Jahrzehnte Bischöfe ebenso wie Spitzenpolitiker aus dem konservativen Lager. Mehrere Landeshauptmänner, Innsbrucker Bürgermeister und Bundeskanzler Julius Raab waren Mitglieder. Das Gehabe mit Säbel, Bändchen und Mütze bei Veranstaltungen und Prozessionen mag auf den ersten Blick lächerlich wirken für nicht eingeweihte Beobachter. Die Bräuche, Traditionen und Gepflogenheiten sind mit Sicherheit antiquiert und nicht jedermanns Sache. Für Außenstehende ist die Gedankenwelt der Verbindungen auch nur schwer zu durchschauen und widersprüchlich. Über dem Portal der Austria findet sich das Motto „Erbaut bin ich zum Schutz & Hort für Menschenrecht & freies Wort“. Mitglieder der Austria waren im katholischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus engagiert. Andererseits waren mit Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg beide Kanzler der Periode, die als Austrofaschismus in die österreichische Geschichte eingehen sollte, Mitglieder der Austria.

März 1848... und was er brachte

Nach den Napoleonischen Kriegen begann Tirol sich zu erholen. Die Industrialisierung hob in und rund um Innsbruck an. Der Tourismus war noch ein Randphänomen, einige mutige Reisende und ihre Ideen schafften es aber ins Land im Gebirge. 1826 öffnete auch die Universität ihre Pforten und brachte auswärtige Studenten nach Innsbruck. Die kleine Stadt am Rande des Kaiserreiches hatte etwas mehr als 12.000 Einwohner, „ohne die Soldaten, Studenten und Fremden zu rechnen“. Universität, Gymnasium, Lesekasino, Musikverein, Theater und Museum zeugten von einer gewissen urbanen Kultur. Es gab ein Deutsches Kaffeehaus, eine Restauration im Hofgarten und mehrere Gasthöfe wie den Österreichischen Hof, die Traube, das Munding, die jeweils Goldenen Adler, Stern und Hirsch.  

Im Gegensatz zum bäuerlich geprägten Umland bildetet sich in Innsbruck ein aufgeklärtes Bildungsbürgertum. In Gaststätten und Kaffeehäusern trafen sich Studenten, Beamte, Mitglieder des niederen Adels und Akademiker, um modernes Gedankengut auszutauschen. Menschen wollten keine Untertanen eines Monarchen oder Landesfürsten mehr sein, sondern Bürger mit Rechten und Pflichten gegenüber einem Staat. Studenten und Freiberufler forderten politische Mitsprache, Pressefreiheit und Bürgerrechte. Arbeiter verlangten nach besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen. Die Allmacht der Kirche wurde in Frage gestellt.

Kanzler Clemens von Metternichs (1773 – 1859) Polizeistaat hielt diese gesellschaftlichen Regungen lange Zeit unter Kontrolle. Liberales Gedankengut, Zeitungen, Flugblätter, Schriften, Bücher und Vereine standen unter Generalverdacht der Obrigkeit. Magazine und Zeitschriften mussten sich anpassen oder im Untergrund verbreitet werden, um nicht der Zensur anheimzufallen. Schriftsteller wie Hermann von Gilm (1812 – 1864) und Johann Senn (1792 – 1857), an beide erinnern heute Straßen in Innsbruck, verbreiteten in Tirol anonym politisch motivierte Literatur und Schriften. Der Mix aus großdeutschem Gedankengut und tirolischem Patriotismus vorgetragen mit dem Pathos der Romantik mutet heute eher eigenartig, harmlos und pathetisch an, war aber dem metternich´schen Staatsapparat weder geheuer noch genehm. Alle Arten von Vereinen wie die Innsbrucker Liedertafel und Studentenverbindungen, sogar die Mitglieder des Ferdinandeums wurden streng überwacht. Auch die Schützen standen, trotz ihrer demonstrativen Kaisertreue, auf der Liste der zu überwachenden Institutionen. Als zu aufsässig galten sie, nicht nur gegenüber fremden Mächten, sondern auch gegenüber der Wiener Zentralstaatlichkeit. Die Arbeiterschaft wurde von der Geheimpolizei Metternichs ebenfalls ins Visier genommen. Besonders St. Nikolaus und Hötting waren als „rote Pflaster“ bekannt.

Im März 1848 entlud sich in vielen Städten Europas dieses sozial und politisch hochexplosive Gemisch in Aufständen. In Innsbruck feierten Studenten und Professoren die neue Pressefreiheit mit einem Fackelzug. Von einem spontanen Ausbruch der Emotionen zu sprechen wäre verwegen, der Termin des Zuges wurde wegen Schlechtwetter vom 20. auf den 21. März verschoben. Es kam kaum zu antihabsburgischen Ausschreitungen oder Übergriffen, ein verirrter Stein in ein Fenster der Jesuiten war einer der Höhepunkte der alpinen Variante der Revolution von 1848. Die Studenten unterstützten das Stadtmagistrat sogar dabei, die öffentliche Ordnung zu überwachen, um so dem Monarchen ihre Dankbarkeit für die neu gewährten Freiheiten und ihre Treue zu zeigen.

Die anfängliche Begeisterung für bürgerliche Errungenschaften wurde in Innsbruck schnell von deutschnationalem, patriotischen Rausch abgelöst. Am 6. April 1848 wurde vom Gubernator Tirols die deutsche Fahne während eines feierlichen Umzugs geschwungen. Auch auf dem Stadtturm wurde eine deutsche Tricolore gehisst. Während sich Studenten und Konservative bei der Pressefreiheit nicht einig wurden, teilte man die Abneigung gegen die italienische Unabhängigkeitsbewegung. Innsbrucker Studenten und Schützen zogen mit Unterstützung der k.k. Armeeführung ins Trentino und

Die Stadt als Heimat vieler Italienischsprachiger wurde zur Arena dieses Nationalitätenkonflikts. In Kombination mit reichlich Alkohol bereiteten anti-italienische Gefühle in Innsbruck mehr Gefahr für die öffentliche Ordnung als die nach bürgerlichen Freiheiten. Ein Streit zwischen einem deutschsprachigen Handwerker und einem italienischsprachigen Ladiner, eigentlich beide Tiroler, schaukelte sich dermaßen auf, dass es beinahe zu einem Pogrom gegenüber den zahlreichen Betrieben und Gaststätten von italienischsprachigen Tirolern gekommen wäre.

Als es in Wien auch nach dem März nicht aufhörte zu brodeln, floh Kaiser Ferdinand im Mai nach Tirol. Innsbruck war wieder Residenz des Kaisers, wenn auch nur für einen Sommer. Folgt man den Presseberichten aus dieser Zeit, wurde er hier von der Bevölkerung begeistert empfangen.

"Wie heißt das Land, dem solche Ehre zu Theil wird, wer ist das Volk, das ein solches Vertrauen genießt in dieser verhängnißvollen Zeit? Stützt sich die Ruhe und Sicherheit hier bloß auf die Sage aus alter Zeit, oder liegt auch in der Gegenwart ein Grund, auf dem man bauen kann, den der Wind nicht weg bläst, und der Sturm nicht erschüttert? Dieses Alipenland heißt Tirol, gefällts dir wohl? Ja, das tirolische Volk allein bewährt in der Mitte des aufgewühlten Europa die Ehrfurcht und Treue, den Muth und die Kraft für sein angestammtes Regentenhaus, während ringsum Auflehnung, Widerspruch. Trotz und Forderung, häufig sogar Aufruhr und Umsturz toben; Tirol allein hält fest ohne Wanken an Sitte und Gehorsam, auf Religion, Wahrheit und Recht, während anderwärts die Frechheit und Lüge, der Wahnsinn und die Leidenschaften herrschen anstatt folgen wollen. Und während im großen Kaiserreiche sich die Bande überall lockern, oder gar zu lösen drohen; wo die Willkühr, von den Begierden getrieben, Gesetze umstürzt, offenen Aufruhr predigt, täglich mit neuen Forderungen losgeht; eigenmächtig ephemere- wie das Wetter wechselnde Einrichtungen schafft; während Wien, die alte sonst so friedliche Kaiserstadt, sich von der erhitzten Phantasie der Jugend lenken und gängeln läßt, und die Räthe des Reichs auf eine schmähliche Weise behandelt, nach Laune beliebig, und mit jakobinischer Anmaßung, über alle Provinzen verfügend, absetzt und anstellt, ja sogar ohne Ehrfurcht, den Kaiser mit Sturm-Petitionen verfolgt; während jetzt von allen Seiten her Deputationen mit Ergebenheits-Addressen mit Bittgesuchen und Loyalitätsversicherungen dem Kaiser nach Innsbruck folgen, steht Tirol ganz ruhig, gleich einer stillen Insel, mitten im brausenden Meeressturme, und des kleinen Völkchens treue Brust bildet, wie seine Berge und Felsen, eine feste Mauer in Gesetz und Ordnung, für den Kaiser und das Vaterland."

1848 überließ Ferdinand den Thron dem jungen Franz Josef I. Im Juli 1848 kam es in Wien in der Hofreitschule zur Abhaltung einer ersten parlamentarischen Sitzung. Eine erste Verfassung wurde in Kraft gesetzt. Der Reformwille der Monarchie flachte aber schnell wieder ab. Das neue Parlament war ein Reichsrat, es konnte keine bindenden Gesetze erlassen, der Kaiser besuchte es Zeit seines Lebens nie und verstand auch nicht, warum die Donaumonarchie als von Gott eingesetzt diesen Rat benötigt.

Die zart in Gang gesetzte Liberalisierung nahm in den Städten trotzdem ihren Lauf. Innsbruck erhielt den Status einer Stadt mit eigenem Statut. Das Innsbrucker Gemeinderecht sah ein Bürgerrecht vor, das zwar an Besitz oder die Abgabe von Steuern gebunden war, jedoch den Angehörigen der Gemeinde gewisse Rechte gesetzlich zusicherte. Das Heimatrecht konnte durch Geburt, Verehelichung oder außerordentlicher Verleihung erworben werden und verlieh zumindest den männlichen Volljährigen das Wahlrecht auf kommunaler Ebene. Geriet man in finanzielle Notlage, so hatte man das Anrecht auf eine Grundversorgung durch die Stadt.

Am 2. Juni 1848 erschien die erste Ausgabe der liberal und großdeutsch gesinnten Innsbrucker Zeitung, der obiger Artikel zur Ankunft des Kaisers in Innsbruck entnommen ist. Die zuvor abgeschaffte Zensur wurde in Teilen wieder eingeführt. Herausgeber von Zeitungen mussten einigen Schikanen der Obrigkeit unterziehen. Zeitungen durften nicht gegen Landesregierung, Monarchie oder Kirche schreiben.

"Wer durch Druckschriften andere zu Handlungen auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, durch welche die gewaltsame Losreißung eines Theiles von dem einheitlichen Staatsverbande... des Kaiserthums Österreich bewirkt... oder der allgemeine öster. Reichstag oder die Landtage der einzelnen Kronländer... gewalttätig stört... wird mit schwerem Kerker von zwei bis zehn Jahren Haft bestraft."

Nachdem Innsbruck 1849 Meran als Landeshauptstadt abgelöste hatte und somit auch endgültig zum politischen Zentrum Tirols geworden war, bildeten sich Parteien. Ab 1868 stellte die liberal und großdeutsch orientierte Partei den Bürgermeister der Stadt Innsbruck. Der Einfluss der Kirche nahm in Innsbruck im Gegensatz zu den Umlandgemeinden ab. Individualismus, Kapitalismus, Nationalismus und Konsum sprangen in die Bresche. Neue Arbeitswelten, Kaufhäuser, Theater, Cafés und Tanzlokale verdrängten Religion zwar auch in der Stadt nicht, die Gewichtung wurde durch die 1848 errungenen bürgerlichen Freiheiten aber eine andere.

Die vielleicht wichtigste Gesetzesänderung war das Grundentlastungspatent. In Innsbruck hielt der Klerus, vor allem das Stift Wilten, einen großen Teil des bäuerlichen Grundbesitzes. Kirche und Adel waren nicht steuerpflichtig. 1848/49 wurden in Österreich Grundherrschaft und Untertänigkeitsverhältnis aufgehoben. Abgelöst wurden damit Grundzinsen, Zehent und Robot. Die Grundherren erhielten im Rahmen der Grundentlastung ein Drittel des Wertes ihrer Ländereien vom Staat, ein Drittel wurde als Steuererleichterung gewertet, ein Drittel der Ablöse mussten die Bauern selbst übernehmen. Die Bauern konnten diesen Betrag in Raten innert zwanzig Jahren abzahlen. Die Nachwirkungen sind bis heute zu spüren. Die Nachkommen der damals erfolgreichen Bauern genießen durch den geerbten Landbesitz, der auf die Grundentlastung 1848 zurückzuführen ist, die Früchte des Wohlstandes und auch politischen Einfluss durch Grundstücksverkäufe für Wohnbau, Pachten und Ablösen der öffentlichen Hand für Infrastrukturprojekte.

1796 - 1866: Vom Herzen Jesu bis Königgrätz

Die Zeit zwischen der Französischen Revolution und der Schlacht bei Königgrätz 1866 war eine kriegerische Periode. Die Monarchien Europas angeführt von den Habsburgern hatten der Französischen Republik den Krieg erklärt. Die Angst ging um, dass sich der Wahlspruch der Revolution „Liberté, Égalité, Fraternité“ in Europa ausbreiten könnte. Ein junger General namens Napoleon Bonaparte war mit seiner italienischen Armee im Rahmen der Koalitionskriege über die Alpen vorgerückt und traf dort auf die österreichischen Truppen. Es war nicht nur ein Krieg um Territorium und Macht, es war ein Kampf der Systeme. Die Grande Armee der revolutionären Republik Frankreich traf auf die erzkatholischen Habsburger.

Tiroler Schützen waren am Kampfgeschehen beteiligt, um die Landesgrenzen gegen die einrückenden Franzosen zu verteidigen. Kompanien wie die 1796 ins Leben gerufenen Höttinger Schützen standen der damals fortschrittlichsten und besten Armee der Welt gegenüber. Der Herz-Jesu-Kult, der in Tirol bis heute große Popularität genießt, reicht bis in diese Zeit zurück. In aussichtsloser Situation erneuerten die Tiroler Truppen ihren Bund mit dem Herzen Jesu, um Schutz zu erbitten. Der Abt des Klosters Stams war es, der bei den Landständen beantragte, von nun an alljährlich "das Fest des göttlichen Herzens Jesu mit feierlichem Gottesdienst zu begehen, wenn Tirol von der drohenden Feindesgefahr befreit werde." Alljährlich wurden die Herz-Jesu-Feiern mit großem Pomp in der Presse besprochen und angekündigt. Sie waren vor allem im 19. und im frühen 20. Jahrhundert ein explosives Gemisch aus Volksaberglauben, Katholizismus und nationalen Ressentiments gegen alles Französische und Italienische. Neben der Gnadenmutter Cranachs ist die Darstellung des Herzen Jesu wohl bis heute das beliebteste christliche Motiv im Tiroler Raum und prangt auf der Fassade unzähliger Häuser.

In den Kriegsjahren 1848, 1859 und 1866 kam es zu den sogenannten Italienischen Einigungskriegen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts, spätestens seit 1848, war es unter jungen Männern zu einem regelrechten nationalen Rausch gekommen. Freiwilligenheere schossen in allen Regionen Europas aus dem Boden. Studenten und Akademiker, die sich in ihren Verbindungen zusammentaten, Turner, Schützen, alle wollten ihre neue Liebe zur Nation auf dem Schlachtfeld unter Beweis stellen und unterstützten die offiziellen Armeen. Die wohl bekannteste Schlacht der Einigungskriege fand in Solferino 1859 in der Nähe des Gardasees statt. Entsetzt vom blutigen Geschehen entschloss sich Henry Durant das Rote Kreuz zu gründen. Der Schriftsteller Joseph Roth beschrieb das Geschehen auf den ersten Seiten seines lesenswerten Klassikers Radetzkymarsch.

„In der Schlacht bei Solferino befehligte er (Anm.: Leutnant Trotta) als Leutnant der Infanterie einen Zug. Seit einer halben Stunde war das Gefecht im Gange. Drei Schritte vor sich sah er die weißen Rücken seiner Soldaten. Die erste Reihe seines Zuges kniete, die zweite stand. Heiter waren alle und sicher des Sieges. Sie hatten ausgiebig gegessen und Branntwein getrunken, auf Kosten und zu Ehren des Kaisers, der seit gestern im Felde war. Hier und dort fiel einer aus der Reihe.“

Innsbruck war als Garnisonsstadt ein wichtiger Versorgungsposten. Nach dem Wiener Kongress war aus dem Tiroler Jägerkorps das k.k. Tiroler Kaiserjägerregiment geworden, eine Eliteeinheit, die in diesen Auseinandersetzungen zum Einsatz kam. Auch freiwillige Einheiten wie die Innsbrucker Akademiker oder die Stubaier Schützen kämpften in Italien. Medien heizten die Stimmung abseits der Frontlinie auf. Die "Innsbrucker Zeitung" predigte in ihren Artikeln Kaisertreue und großdeutsch-tirolischen Nationalismus, wetterte gegen das Italienertum und Franzosen und pries den Mut Tiroler Soldaten.

"Die starke Besetzung der Höhen am Ausgange des Valsugana bei Primolano und le Tezze gab schon oft den Innsbrucker-Akademikern I. und den Stubaiern Anlaß, freiwillige Ercur:sionen gegen le Tezze, Fonzago und Fastro, als auch auf das rechte Brenta-Ufer und den Höhen gegen die kleinen Lager von den Sette comuni zu machen...Am 19. schon haben die Stubaier einige Feinde niedergestreckt, als sie sich das erste mal hinunterwagten, indem sie sich ihnen entgegenschlichen..."

Besonders verlustreich für das Kaiserreich Österreich war das Jahr 1866. In Italien gingen Venetien und die Lombardei verloren. Gleichzeitig übernahm Preußen die Führung im Deutschen Bund, der Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Für Innsbruck bedeutete das Ausscheiden der Habsburgermonarchie aus dem Deutschen Bund, dass man endgültig zu einer Stadt an der westlichen Peripherie des Reiches geworden war. Der Hang zur sogenannten Großdeutschen Lösung, also einer Staatlichkeit mit dem Deutschen Reich gemeinsam anstatt dem alleinstehenden Kaisertum Österreich, war in Tirol stärker ausgeprägt als im restlichen Österreich.

Die nationalen Bestrebungen der einzelnen Volksgruppen machten auch vor Tirol nicht halt, gehörte mit dem Trentino zwischen Salurn und Riva am Gardasee doch auch ein italienischsprachiger Teil zum Land. Im Tiroler Landtag forderten italienischsprachige Abgeordnete, sogenannte Irredentisten, mehr Rechte und Autonomie für das damalige Südtirol. In Innsbruck kam es zwischen italienischen und deutschsprachigen Studenten immer wieder zu Spannungen und Auseinandersetzungen. Die Wallschen, dieser Begriff für Italiener hält sich bis heute recht hartnäckig, galten als ehrlos, unzuverlässig und faul.

Mit dem Tummelplatz, dem Militärfriedhof Pradl und dem Kaiserjägermuseum am Berg Isel besitzt Innsbruck mehrere Erinnerungsorte an diese für die Habsburger verlustreiche Zeit.

Der Erste Weltkrieg und die Zeit danach

Auch in Innsbruck war die Begeisterung für den Krieg 1914 groß gewesen. Vom Nationalismus und der Begeisterung für „Gott, Kaiser und Vaterland“ der Zeit angetrieben, begrüßten Bauernsöhne und Studenten den Krieg zum allergrößten Teil einhellig. Klerus und Presse stimmten in den allgemeinen Jubel mit ein und heizten die Sache weiter an. Besonders „verdient“ machten sich dabei Theologen wie Joseph Seeber (1856 – 1919) und Anton Müllner alias Bruder Willram (1870 – 1919) die mit ihren Predigten und Schriften wie „Das blutige Jahr“ den Krieg zu einem Kreuzzug gegen Frankreich und Italien erhoben.

Viele Innsbrucker meldeten sich freiwillig für den Feldzug gegen Serbien, von dem man dachte, er wäre eine Angelegenheit weniger Wochen oder Monate. Von außerhalb der Stadt kam eine so große Anzahl an Freiwilligen zu den Stellungskommissionen, dass Innsbruck beinahe aus allen Nähten platzte. Wie anders es kommen sollte, konnte keiner ahnen. Schon nach den ersten Schlachten im fernen Galizien war klar, dass es keine Sache von Monaten werden würde.

1915 trat das Königreich Italien an der Seite Frankreichs und Englands in den Krieg ein. Damit ging die Front quer durch das damalige Tirol. Vom Ortler im Westen über den nördlichen Gardasee bis zu den Sextener Dolomiten fanden die Gefechte des Gebirgskriegs statt. Innsbruck war nicht direkt von den Kampfhandlungen betroffen. Zumindest hören konnte man das Kriegsgeschehen aber bis in die Landeshauptstadt, wie in der Zeitung vom 7. Juli 1915 zu lesen war:

„Bald nach Beginn der Feindseligkeiten der Italiener konnte man in der Gegend der Serlesspitze deutlich Kanonendonner wahrnehmen, der von einem der Kampfplätze im Süden Tirols kam, wahrscheinlich von der Vielgereuter Hochebene. In den letzten Tagen ist nun in Innsbruck selbst und im Nordosten der Stadt unzweifelhaft der Schall von Geschützdonner festgestellt worden, einzelne starke Schläge, die dumpf, nicht rollend und tönend über den Brenner herüberklangen. Eine Täuschung ist ausgeschlossen. In Innsbruck selbst ist der Donner der Kanonen schwerer festzustellen, weil hier der Lärm zu groß ist, es wurde aber doch einmal abends ungefähr um 9 Uhr, als einigermaßen Ruhe herrschte, dieser unzweifelhafte von unseren Mörsern herrührender Donner gehört.“

Bis zur Verlegung regulärer Truppen von der Ostfront hing die Landesverteidigung an den Standschützen, einer Truppe, die aus Männern unter 21, über 42 oder mit Untauglichkeit für den regulären Militärdienst bestand. Täglich trafen wenig erbauliche Neuigkeiten der Front, Särge und Kriegsgefangene ein. Verwundetentransporte luden Menschenmaterial für die Lazarette im Hinterland ab. Um der großen Zahl an Gefallenen Herr zu werden, wurde der Militärfriedhof Pradl angelegt.

Die Bevölkerung in Innsbruck litt unter Mangel, vor allem im letzten Winter, der als Hungerwinter in die europäische Geschichte einging. Die Versorgung erfolgte in den letzten Kriegsjahren über Bezugsscheine. 500 g Fleisch, 60 g Butter und 2 kg Kartoffel waren die Basiskost pro Person – pro Woche, wohlgemerkt. Auf Archivbildern kann man die langen Schlangen verzweifelter und hungriger Menschen vor den Lebensmittelläden sehen.

Im Oktober 1918 kam es zu Fliegeralarm, Schaden entstand keiner. Zu dieser Zeit war den meisten Menschen schon klar, dass der Krieg verloren war, und welches Schicksal Tirol erwarten würde, wie dieser Artikel vom 6. Oktober 1918 zeigt:

 „Aeußere und innere Feinde würfeln heute um das Land Andreas Hofers. Der letzte Wurf ist noch grausamer; schändlicher ist noch nie ein freies Land geschachert worden. Das Blut unserer Väter, Söhne und Brüder ist umsonst geflossen, wenn dieser schändliche Plan Wirklichkeit werden soll. Der letzte Wurf ist noch nicht getan. Darum auf Tiroler, zum Tiroler Volkstag in Brixen am 13. Oktober 1918 (nächsten Sonntag). Deutscher Boden muß deutsch bleiben, Tiroler Boden muß tirolisch bleiben. Tiroler entscheidet selbst über Eure Zukunft!

Am 4. November vereinbarten Österreich-Ungarn und das Königreich Italien schließlich einen Waffenstillstand. Damit verbunden war das Recht der Alliierten Gebiete der Monarchie zu besetzen. Bereits am nächsten Tag rückten bayerische Truppen in Innsbruck ein. Der österreichische Verbündete Deutschland befand sich noch im Krieg mit Italien und hatte Angst, die Front könnte nach Nordtirol näher an das Deutsche Reich verlegt werden. Zum großen Glück für Innsbruck und die Umgebung kapitulierte aber auch Deutschland eine Woche später am 11. November. So blieben die großen Kampfhandlungen zwischen regulären Armeen außen vor.

Trotzdem war Innsbruck in Gefahr. Gewaltige Kolonnen an militärischen Kraftfahrzeugen, Züge voller Soldaten und tausende ausgezehrte Soldaten, die sich zu Fuß auf den Heimweg von der Front machten, passierten die Stadt. Um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, bildeten sich Wehrgruppen aus Schülern, Studenten, Arbeitern und Bürgern. Die Stadt musste nicht nur die eigenen Bürger in Zaum halten, die Verpflegung garantieren, sondern sich auch vor Plünderungen schützen.

Am 23. November 1918 besetzten italienische Truppen die Stadt und das Umland. Der beschwichtigende Aufruf an die Innsbrucker von Bürgermeister Greil, die Stadt ohne Aufruhr zu übergeben, hatte Erfolg. Es kam kaum zu Ausschreitungen.

Die wirtschaftlichen Aussichten in Innsbruck waren in den Nachkriegsjahren miserabel. Die Republik Deutschösterreich war zwar ausgerufen, wie es mit Tirol weitergehen sollte, war unklar. Bei den Friedensverhandlungen in Paris war wurde der Brenner zur neuen Grenze erklärt. Das historische Tirol war zweigeteilt. Viele Menschen zu beiden Seiten des Brenners fühlten sich verraten. Man hatte den Krieg zwar bei Weitem nicht gewonnen, als Verlierer gegenüber Italien sah man sich aber nicht. Der Hass auf Italiener erreichte in der Zwischenkriegszeit seinen Höhepunkt. Eine Passage aus dem Erzählband „Die Front über den Gipfeln“ des nationalsozialistischen Autors Karl Springenschmid spiegelt die allgemeine Stimmung wider:

„`Walsch (Anm.:Italienisch) werden, das wär das Ärgste!` sagt die Junge.

Da nickt der alte Tappeiner bloß und schimpft: `Weiß wohl selber und wir wissen es alle: Walsch werden, das wär das Ärgste.`“

Der Anschluss an Deutschland erhielt bei einer Abstimmung in Tirol einen Zuspruch von 98% in Tirol, kam aber nie zustande. Auch eine eigene Republik mit Bayern stand im Raum. Viele Menschen, besonders Beamten und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, hatten ihre Arbeit verloren. Der Fremdenverkehr war inexistent. Erst 1923, mit der Währungssanierung unter Kanzler Ignaz Seipel begann sich Innsbruck langsam zu erholen.

Erinnerungsorte an den Ersten Weltkrieg finden sich in Innsbruck vor allem an Kirchen, die der gefallenen Gemeindemitglieder gedenken, und Friedhöfen. Besonders interessant ist der Pradler Friedhof. Den beiden Theologen Anton Müllner und Josef Seeber sind Innsbrucker Straßennamen gewidmet.

Die Bocksiedlung und der Austrofaschismus

Kaum eine Zeit ist schwerer zu fassen als die Zwischenkriegszeit. Die Roaring Twenties, Jazz und Automobile kommen einem ebenso in den Sinn wie Inflation und Wirtschaftskrise. Innsbrucks Bevölkerung gehörte als Teil der jungen Republik Österreich zum größten Teil zur Fraktion Armut, Wirtschaftskrise und politischer Polarisierung. Das Land war zwischen Sozialdemokratie und Christlichsozialen tief gespalten. Die Kluft bestand nicht nur auf politischer Ebene. Moral, Familie, Freizeitgestaltung, Erziehung, Glaube, Rechtsverständnis – jeder Lebensbereich war betroffen.

Der Republikanische Schutzbund auf Seiten der Sozialdemokraten und die christlich-sozial orientierten Heimwehren, der Einfachheit halber sollen die unterschiedlichen Gruppen unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, standen sich feindselig gegenüber. Viele Politiker und Funktionäre beider Seiten hatten, wie ein großer Teil der männlichen Bevölkerung, im Krieg an der Front gekämpft und waren dementsprechend militarisiert. In Innsbruck kam es immer wieder zu kleineren Zusammenstößen zwischen den verfeindeten Gruppen der Sozialdemokraten, Nationalsozialisten und der Heimwehren. Der größte Gewaltausbruch im heutigen Innsbrucker Stadtgebiet war die Höttinger Saalschlacht 1932, während der der Führer der Tiroler Heimwehr Richard Steidle (1881 – 1940) verletzt wurde.

Nach jahrelangen bürgerkriegsähnlichen Zuständen setzten sich 1933 die Christlichsozialen unter Kanzler Engelbert Dollfuß (1892 – 1934) durch und schalteten das Parlament aus. Das Ziel Dollfuß´ war die Errichtung des sogenannten Österreichischen Ständestaats, einem Einparteienstaat ohne Opposition unter Beschneidung elementarer Rechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit. In Tirol wurde 1933 die Tiroler Wochenzeitung neu gegründet um als Parteiorgan zu fungieren. Der gesamte Staatsapparat sollten analog zum Faschismus Mussolinis in Italien unter der Vaterländischen Front geeint werden: Antisozialistisch, autoritär, konservativ im Gesellschaftsbild, antidemokratisch, antisemitisch und militarisiert.

Dollfuß war in Tirol überaus populär, wie Aufnahmen des vollen Platzes vor der Hofburg während einer seiner Ansprachen aus dem Jahr 1933 zeigen. Dollfuß´ katholisch motivierte Politik war das, was der Habsburgermonarchie am nächsten kam und auch von der Kirche unterstützt wurde. Das unausgesprochene Fernziel war die Wiedereinsetzung der Monarchie. 1931 hatten sich einige Tiroler Bürgermeister zusammengeschlossen, um das Einreiseverbot für die Habsburger aufheben zu lassen. Auch die Geschlechtertrennung an Schulen und die Umgestaltung der Lehrpläne für Mädchen bei gleichzeitiger vormilitärischer Ertüchtigung der Buben war im Sinn eines großen Teils der Bevölkerung.

Am 25. Juli 1934 kam es in Wien zu einem Putschversuch der verbotenen Nationalsozialisten, bei dem Dollfuß ums Leben kam. In Innsbruck wurde daraufhin auf „Verfügung des Regierungskommissärs der Landeshauptstadt Tirols“ der Platz vor dem Tiroler Landestheater als Dollfußplatz geführt. Hier hatte sich Dollfuß bei einer Kundgebung zwei Wochen vor seinem Tod noch mit dem Heimwehrführer Richard Steidle getroffen.

Dollfuß´ Nachfolger als Kanzler Kurt Schuschnigg (1897 – 1977) war gebürtiger Tiroler und Mitglied der Innsbrucker Studentenverbindung Austria. Er betrieb lange Zeit eine Rechtsanwaltskanzlei in Innsbruck. 1930 gründete er eine paramilitärische Einheit mit namens Ostmärkische Sturmscharen, die das Gegengewicht der Christlich-Sozialen zu den radikalen Heimwehrgruppen bildeten. Nach dem Februaraufstand 1934 war er als Justizminister im Kabinett Dollfuß mitverantwortlich für die Hinrichtung mehrerer gefangener Sozialdemokraten.

Vor allem wirtschaftlich konnte aber auch der Austrofaschismus das Ruder in den 1930er Jahren nicht herumreißen. Die Arbeitslosenquote lag 1933 bei 25%. Die Einschränkung der sozialen Fürsorge, die zu Beginn der Ersten Republik eingeführt worden war, hatte dramatische Auswirkungen. Langzeitarbeitslose wurden vom Bezug von Sozialleistungen als „Ausgesteuerte“ ausgeschlossen.

Trotz der Bemühungen seitens der Stadt modernen Wohnraum zu schaffen, hausten noch immer viele Innsbrucker in Bruchbuden. Badezimmer oder ein Schlafraum pro Person war die Ausnahme. Seit dem großen Wachstum Innsbrucks ab den 1880er Jahren war die Wohnsituation für viele Menschen prekär. Eisenbahn, Industrialisierung, Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Gebieten Italiens und Wirtschaftskrise hatten Innsbruck an den Rand des Möglichen getrieben. Nach Wien hatte Innsbruck die zweithöchste Anzahl an Bewohnern pro Haus vorzuweisen. Die Mietpreise für Wohnraum waren derart hoch, dass Arbeiter häufig in Etappen schliefen, um sich die Kosten zu teilen. Zwar waren vor allem in Pradl neue Wohnblöcke und Obdachlosenunterkünfte entstanden wie das Wohnheim für Arbeiter in der Amthorstraße 1907, die Herberge in der Hunoldstraße und der Pembaurblock, das genügte aber nicht um der Situation Herr zu werden. An den Randgebieten der Stadt entstanden mehrere Barackendörfer und Siedlungen, gegründet von den Ausgeschlossenen, Verzweifelten und Abgehängten, die im System keinen Platz fanden.

Die bis heute bekannteste und berüchtigtste war die Bocksiedlung am Gebiet der heutigen Reichenau. Zwischen dem damals dort beheimateten Flughafen und den Baracken des Konzentrationslagers Reichenau siedelten sich ab 1930 mehrere Familien in Baracken und Wohnwägen an. Die Entstehungslegende spricht von Otto und Josefa Rauth als Gründerinnen, deren Wohnwagen hier strandete. Rauth war nicht nur wirtschaftlich, sondern als bekennender Kommunist in Tiroler Lesart auch moralisch arm. Sein Floß, die Arche Noah, mit dem er über Inn und Donau in die Sowjetunion gelangen wollte, ankerte vor dem Gasthof Sandwirt.

Nach und nach entstand ein Bereich gleichermaßen am Rand der Stadt wie auch der Gesellschaft, der vom inoffiziellen Bürgermeister der Siedlung Johann Bock (1900 – 1975) wie eine unabhängige Kommune geleitet wurde. Er regelte die Agenden in seinem Wirkungsbereich in rau-herzlicher Manier.

Die Bockala hatten einen fürchterlichen Ruf unter den braven Bürgern der Stadt. Bei aller Geschichtsglättung und Nostalgie wohl nicht zu Unrecht. So hilfsbereit und solidarisch die oft exzentrischen Bewohner der Siedlung untereinander sein konnten, waren körperliche Gewalt und Kleinkriminalität an der Tagesordnung. Übermäßiger Alkoholkonsum war gängige Praxis.

Die Straßen waren nicht asphaltiert. Fließendes Wasser, Kanalisation und Sanitäranlagen gab es ebenso wenig wie eine reguläre Stromversorgung. Sogar die Versorgung mit Trinkwasser war lange prekär, was die ständige Gefahr von Seuchen mit sich brachte.

Nicht alle Bewohner waren arbeitslos oder kriminell. Es waren Menschen, die durch das System fielen, die sich in der Bocksiedlung niederließen. Das falsche Parteibuch zu haben konnte genügen, um im Innsbruck der 1930er keinen Wohnraum ergattern zu können. Karl Jaworak, der 1924 ein Attentat auf Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel verübte, lebte nach seiner Haft und Deportation in ein Konzentrationslager während des NS-Regimes ab 1958 an der Adresse Reichenau 5a.

Die Ausstattung der Behausungen der Bocksiedlung war ebenso heterogen wie die Bewohner. Es gab Wohn- und Zirkuswägen, Holzbaracken, Wellblechhütten, Ziegel- und Betonhäuser. Die Bocksiedlung hatte auch keine fixen Grenzen. Bockala zu sein war in Innsbruck ein sozialer Status, der zu einem großen Teil in der Imagination der Bevölkerung entstand.

Innerhalb der Siedlung kam es zu Vermietung und Verkauf der errichteten Häuser und Wägen. Unter Duldung der Stadt Innsbruck entstanden ersessene Werte. Die Bewohner bewirtschafteten Selbstversorgergärten und hielten Vieh, auch Hund und Katze standen in kargen Zeiten am Speiseplan.

Die Luftangriffe des Zweiten Weltkrieges verschärften die Wohnsituation in Innsbruck und ließen die Bocksiedlung wachsen. Um die 50 Unterkünfte sollen es am Höhepunkt gewesen sein. Auch die Baracken des Konzentrationslagers Reichenau wurden als Schlafplätze genutzt, nachdem die letzten inhaftierten Nationalsozialisten, die dort verwahrt wurden, verlegt oder freigelassen worden waren, allerdings zählte das KZ nicht zur Bocksiedlung im engeren Sinn.

Der Anfang vom Ende waren die Olympischen Spielen von 1964 und ein Brand in der Siedlung ein Jahr zuvor. Böse Zungen behaupten, dieser sei gelegt worden, um die Räumung zu beschleunigen.  1967 verhandelten Bürgermeister Alois Lugger und Johann Bock, Erzählungen nach in alkoholgeschwängerter Atmosphäre, über das weitere Vorgehen und Entschädigungen seitens der Gemeinde für die Räumung. 1976 wurden die letzten Quartiere wegen hygienischer Mängel geräumt.

Viele ehemalige Bewohner der Bocksiedlung wurden nach den Olympischen Spielen in städtische Wohnungen in Pradl, der Reichenau und im O-Dorf einquartiert. Die Sitten der Bocksiedlung lebten noch einige Jahre fort, was den schlechten Ruf der städtischen Wohnblöcke dieser Stadtviertel bis heute ausmacht.

Eine Aufarbeitung dessen, was von vielen Historikern als Austrofaschismus bezeichnet wird, ist in Österreich bisher kaum passiert. So sind in der Kirche St. Jakob im Defereggen in Osttirol oder in der Pfarrkirche Fritzens noch Bilder mit Dollfuß als Beschützer der katholischen Kirche mehr oder minder unkommentiert zu sehen. In vielen Belangen reicht das Erbe der gespaltenen Situation der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart. Bis heute gibt es rote und schwarze Autofahrerclubs, Sportverbände, Rettungsgesellschaften und Alpinverbände, deren Wurzeln in diese Zeit zurückreichen.

Die Geschichte der Bocksiedlung wurde in vielen Interviews und mühsamer Kleinarbeit vom Stadtarchiv für das Buch „Bocksiedlung. Ein Stück Innsbruck“ des Stadtarchivs lesenswert aufbereitet.

Glaube, Kirche, Obrigkeit und Herrschaft

Die Fülle an Kirchen, Kapellen, Kruzifixen und Wandmalereien im öffentlichen Raum wirkt auf viele Besucher Innsbrucks aus anderen Ländern eigenartig. Nicht nur Gotteshäuser, auch viele Privathäuser sind mit Darstellungen der Heiligen Familie oder biblischen Szenen geschmückt. Der christliche Glaube und seine Institutionen waren in ganz Europa über Jahrhunderte alltagsbestimmend. Innsbruck als Residenzstadt der streng katholischen Habsburger und Hauptstadt des selbsternannten Heiligen Landes Tirol wurde bei der Ausstattung mit kirchlichen Bauwerkern besonders beglückt. Allein die Dimension der Kirchen umgelegt auf die Verhältnisse vergangener Zeiten sind gigantisch. Die Stadt mit ihren knapp 5000 Einwohnern besaß im 16. Jahrhundert mehrere Kirchen, die in Pracht und Größe jedes andere Gebäude überstrahlte, auch die Paläste der Aristokratie. Das Kloster Wilten war ein Riesenkomplex inmitten eines kleinen Bauerndorfes, das sich darum gruppierte. Die räumlichen Ausmaße der Gotteshäuser spiegelt die Bedeutung im politischen und sozialen Gefüge wider.

Die Kirche war für viele Innsbrucker nicht nur moralische Instanz, sondern auch weltlicher Grundherr. Der Bischof von Brixen war formal hierarchisch dem Landesfürsten gleichgestellt. Die Bauern arbeiteten auf den Landgütern des Bischofs wie sie auf den Landgütern eines weltlichen Fürsten für diesen arbeiteten. Damit hatte sie die Steuer- und Rechtshoheit über viele Menschen. Die kirchlichen Grundbesitzer galten dabei nicht als weniger streng, sondern sogar als besonders fordernd gegenüber ihren Untertanen. Gleichzeitig war es auch in Innsbruck der Klerus, der sich in großen Teilen um das Sozialwesen, Krankenpflege, Armen- und Waisenversorgung, Speisungen und Bildung sorgte. Der Einfluss der Kirche reichte in die materielle Welt ähnlich wie es heute der Staat mit Finanzamt, Polizei, Schulwesen und Arbeitsamt tut. Was uns heute Demokratie, Parlament und Marktwirtschaft sind, waren den Menschen vergangener Jahrhunderte Bibel und Pfarrer: Eine Realität, die die Ordnung aufrecht hält. Zu glauben, alle Kirchenmänner wären zynische Machtmenschen gewesen, die ihre ungebildeten Untertanen ausnützten, ist nicht richtig. Der Großteil sowohl des Klerus wie auch der Adeligen war fromm und gottergeben, wenn auch auf eine aus heutiger Sicht nur schwer verständliche Art und Weise.

Anders als heute, war Religion keineswegs Privatsache. Verletzungen der Religion und Sitten wurde vor weltlichen Gerichten verhandelt und streng geahndet. Die Anklage bei Verfehlungen lautete Häresie, worunter eine Vielzahl an Vergehen zusammengefasst wurde. Sodomie, also jede sexuelle Handlung, die nicht der Fortpflanzung diente, Zauberei, Hexerei, Gotteslästerung – kurz jede Abwendung vom rechten Gottesglauben, konnte mit Verbrennung geahndet werden. Das Verbrennen sollte die Verurteilten gleichzeitig reinigen und sie samt ihrem sündigen Treiben endgültig vernichten, um das Böse aus der Gemeinschaft zu tilgen.

Bis in kleine Details des täglichen Lebens regelte die Kirche lange Zeit das alltägliche Sozialgefüge der Menschen. Kirchenglocken bestimmten den Zeitplan der Menschen. Ihr Klang rief zur Arbeit, zum Gottesdienst oder informierte als Totengeläut über das Dahinscheiden eines Mitglieds der Gemeinde. Menschen konnten einzelne Glockenklänge und ihre Bedeutung voneinander unterscheiden. Sonn- und Feiertage strukturierten die Zeit. Fastentage regelten den Speiseplan. Familienleben, Sexualität und individuelles Verhalten hatten sich an den von der Kirche vorgegebenen Moral zu orientieren. Das Seelenheil im nächsten Leben war für viele Menschen wichtiger als das Lebensglück auf Erden, war dies doch ohnehin vom determinierten Zeitgeschehen und göttlichen Willen vorherbestimmt. Fegefeuer, letztes Gericht und Höllenqualen waren Realität und verschreckten und disziplinierten auch Erwachsene.

Während das Innsbrucker Bürgertum von den Ideen der Aufklärung nach den Napoleonischen Kriegen zumindest sanft wachgeküsst worden war, blieb der Großteil der Menschen in den Umlandgemeinden weiterhin der Mischung aus konservativem Katholizismus und abergläubischer Volksfrömmigkeit verbunden.

Glaube und Kirche haben noch immer ihren fixen Platz im Alltag der Innsbrucker, wenn auch oft unbemerkt. Die Kirchenaustritte der letzten Jahrzehnte haben der offiziellen Mitgliederzahl zwar eine Delle versetzt und Freizeitevents werden besser besucht als Sonntagsmessen. Die römisch-katholische Kirche besitzt aber noch immer viel Grund in und rund um Innsbruck, auch außerhalb der Mauern der jeweiligen Klöster und Ausbildungsstätten. Etliche Schulen in und rund um Innsbruck stehen ebenfalls unter dem Einfluss konservativer Kräfte und der Kirche. Und wer immer einen freien Feiertag genießt, ein Osterei ans andere peckt oder eine Kerze am Christbaum anzündet, muss nicht Christ sein, um als Tradition getarnt im Namen Jesu zu handeln.