Romantik, Sommer ohne Sonne und Entschuldigungskarten
Romantik, sonnenlose Sommer und Entschuldigungskarten
Nach den Napoleonischen Kriegen begann Tirol sich zu erholen. Die kleine Stadt am Rande des Kaiserreiches hatte etwas mehr als 12.000 Einwohner, „ohne die Soldaten, Studenten und Fremden zu rechnen“. Universität, Gymnasium, Lesekasino, Musikverein, Theater und Museum zeugten von einer gewissen urbanen Kultur. Es gab ein Deutsches Kaffeehaus, eine Restauration im Hofgarten und mehrere Gasthöfe wie den Österreichischen Hof, die Traube, das Munding, die jeweils Goldenen Adler, Stern und Hirsch.
Die bayerische Besatzung war nach 1815 verschwunden, die Ideen der Denker der Aufklärung und der Französischen Revolution hatten sich aber in einigen Köpfen verfangen. In Gaststätten und Kaffeehäusern trafen sich Studenten, Beamte, Mitglieder des niederen Adels und Akademiker, um modernes Gedankengut auszutauschen.
Die Antike und ihre Denker feierten in Innsbruck wie in ganz Europa eine zweite Renaissance. Stilbildend waren Denker der Romantik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wie Winckelmann, Lessing oder Hegel. Den Griechen wurde „edle Einfalt und stille Größe“ attestiert. Goethe wollte das „Land der Griechen mit der Seele suchen“ und machte sich auf nach Italien, um dort seine Sehnsucht nach der guten, vorchristlichen Zeit zu suchen, in dem die Menschen des Goldenen Zeitalters ein ungezwungenes Verhältnis mit ihren Göttern pflegten. Römische Tugenden wurden als Leitbilder in die Moderne transportiert und bildeten die Basis für bürgerliche Genügsamkeit und den Patriotismus, der groß in Mode kam. Philologen durchkämmten die Texte antiker Schriftsteller und Philosophen und transportierten ein gefälliges „Best of“ ins 19. Jahrhundert. Studenten und Intellektuelle wie der Brite Lord Byron wurden so sehr vom Panhellenismus ergriffen, dass sie im griechischen Unabhängigkeitskampf gegen das osmanische Reich ihr Leben aufs Spiel setzten. Säulen, Sphinxe, Büsten und Statuen mit klassischen Proportionen schmückten Paläste, Verwaltungsgebäude und Museen wie das Ferdinandeum.
Kanzler Clemens von Metternichs (1773 – 1859) Polizeistaat hielt diese gesellschaftlichen Regungen lange Zeit unter Kontrolle. Liberales Gedankengut, Zeitungen, Flugblätter, Schriften, Bücher und Vereine standen unter Generalverdacht der Obrigkeit. Magazine und Zeitschriften mussten sich anpassen oder im Untergrund verbreitet werden, um nicht der Zensur anheimzufallen.
Schriftsteller wie Hermann von Gilm (1812 – 1864) und Johann Senn (1792 – 1857), an beide erinnern heute Straßen in Innsbruck, verbreiteten in Tirol anonym politisch motivierte Literatur und Schriften. Der Mix aus großdeutsch-nationalem Gedankengut und tirolischem Patriotismus vorgetragen mit dem Pathos der Romantik mutet heute eher eigenartig, harmlos und pathetisch an, war aber dem metternich´schen Staatsapparat weder geheuer noch genehm. Alle Arten von Vereinen wie die Innsbrucker Liedertafel und Studentenverbindungen, sogar die Mitglieder des Ferdinandeums wurden streng überwacht. Auch die Schützen standen, trotz ihrer demonstrativen Kaisertreue, auf der Liste der zu überwachenden Institutionen. Als zu aufsässig galten sie, nicht nur gegenüber fremden Mächten, sondern auch gegenüber der Wiener Zentralstaatlichkeit. Die Arbeiterschaft wurde von der Geheimpolizei Metternichs ebenfalls ins Visier genommen. Besonders St. Nikolaus und Hötting waren als „rote Pflaster“ bekannt.
All das waren aber Randphänomene, die nur eine kleine Anzahl an wohlhabenden Menschen beschäftigte. Die wirtschaftliche Situation war wie in jeder Nachkriegszeit wenig berauschend und die Napoleonischen Kriege hatten über 20 Jahre lang gewütet. Die Universität, die junge Aristokraten in den Wirtschaftskreislauf der Stadt zog, wurde erst 1826 wieder eröffnet. Anders als Industriestandorte in Böhmen, Mähren, Preußen oder England war die schwer erreichbare Stadt in den Alpen erst am Anfang der Entwicklung hin zu einem modernen Arbeitsmarkt. Auch der Tourismus steckte noch in den Kinderschuhen und war keine Cash Cow. Und dann war da noch ein Vulkan am anderen Ende der Welt, der die Geschicke der Stadt Innsbruck über Gebühr beeinflusste. 1815 war in Indonesien der Tambora ausgebrochen und hatte eine riesige Staub-, Schwefel- und Aschewolke um die Welt geschickt. 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein. In ganz Europa kam es zu Wetterkapriolen, Überschwemmungen und Missernten. Die wirtschaftlichen Verwerfungen und Preissteigerungen führten zu Not und Elend vor allem in den ärmeren Teilen der Bevölkerung.
Die Armenfürsorge war im 19. Jahrhundert eine Aufgabe der Gemeinden, für gewöhnlich mit der Unterstützung wohlhabender Bürger, die als christliche Mäzen im Gedanken der Nächstenliebe Aristokratie und Kirche in dieser Rolle ergänzten. Als die Not immer größer wurde und die Stadtkassen leerer, kam es in Innsbruck zu einer Innovation, die für über 100 Jahre Bestand haben sollte: Die Neujahrs-Entschuldigungskarte.
Auch damals war es Brauch, am ersten Tag des Jahres seine Verwandten zu besuchen, um sich gegenseitig ein Gutes Neues Jahr zu wünschen. Ebenfalls war es Brauch, dass notleidende Familien und Bettler an die Türen der wohlhabenden Bürger klopften, um zu Neujahr um Almosen zu bitten. Mit der Einführung der Neujahrs-Entschuldigungskarte schlug man gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Die Käufer der Karte konnten institutionalisiert und in geregelten Bahnen ihre ärmeren Mitglieder, ähnlich wie es heutzutage mit dem Kauf der Straßenzeitung Zwanziger möglich ist, unterstützen. Gleichzeitig diente die Neujahrs-Entschuldigungskarte dazu, sich durch ihren Versand vor den wenig geliebten Pflichtbesuchen bei der Verwandtschaft zu drücken. Wer die Karte an seine Haustüre hängte, signalisierte den Bedürftigen auch, dass weiteres Fragen um Almosen nicht von Nöten sei, da man seinen Beitrag bereits abgedungen hatte. Zu guter Letzt wurden die edlen Spender auch noch in den Medien wohlwollend erwähnt, damit jeder sehen konnte, wie sehr sie sich im Namen der Nächstenliebe um ihre weniger begüterten Mitmenschen kümmern.
Die Neujahrs-Entschuldigungskarten waren ein voller Erfolg. Bei ihrer Premiere zum Jahreswechsel von 1819 auf 1820 wurden bereits 600 Stück verkauft. Viele Gemeinden übernahmen das Innsbrucker Rezept. In der Zeitschrift „Der Kaiserlich-königlich priviligierte Bothe von und für Tirol und Vorarlberg“ wurden am 12. Februar die Erlöse für Bruneck, Bozen, Trient, Rovereto, Schwaz, Imst, Bregenz und Innsbruck veröffentlicht. Auch sonstige Institutionen wie Feuerwehren und Vereine übernahmen die gut funktionierende Sitte, um Spenden für ihr Anliegen zu schaffen. Die mannigfaltige Gestaltung reichte von christlichen Motiven über Portraits bekannter Persönlichkeiten, Amtsgebäude, Neubauten, Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten. Im Stadtarchiv Innsbruck können viele der Designs noch ausgehoben werden.