Kinder sparen für ein Schwein
Von Karl Gideon Gössele
Erschienen: Innsbrucker Nachrichten / 21. August 1937
Über diesen Text...
Seit 1933 war die Vaterländische Front die alles bestimmende Partei in Österreich. Medien unterlagen einer strengen Kontrolle. Der Ständestaat unter dem Tiroler Kanzler Kurt Schuschnigg propagierte ein konservatives Menschenbild, in dem das idyllische Leben am Land als die Erfüllung des menschlichen Daseins galt.
Der Artikel
Die Familie Spinnenhirn – der Leser möge diesen Namen verzeihen, aber so heißen die Leute nun einmal, und warum eigentlich sollen sie so nicht heißen? – ist von der Stadt hinaus aufs Land gezogen. Sie besteht aus Vater, Mutter und vier Kindern, die die Vornamen Fritz, Wolfgang, Herzelinde und Henriette führen. Das Haupt der Familie ist Schriftsteller, um nicht zu sagen Dichter. Dieser Dichter bringt sich und seine Lieben schlecht und recht durchs Leben mit den Ergrägnissen seiner Feder, die bei Zeitungen und Zeitschriften, bei Buchverlagen und Rundfunk nicht unbeliebt sind. Der Beruf des Dichters Spinnenhirn ist nicht ortsgebunden, er kann von überall her ausgeübt werden, denn die Post sorgt in vorbildlicher Weise dafür, daß das, was das Hirn von Herrn Spinnenhirn abends ausdenkt, schon am anderen Morgen auf den Schreibtischen der Redaktionen lastet. Und so hat unser Dichter beschlossen, mit seiner Familie lieber in der guten Landluft naturnah zu leben , als in der Dunstsphäre der Stadt.
Die vier Dichterskinder fühlen sich wohl in den ländlichen Verhältnissen. Die weiten Flächen der grünen Wiesen geben bessere Spielplätze ab als die Höfe, die zwischen hohen Häusern eingeklemmt sind. Die Dorfkinder in ihrer Unverbogenheit, Frische und Derbheit bedeuten prächtige Spielkameraden. Das ungehemmte Licht der Sonne und das einprägsame Gesicht einer schönen Landschaft machen die Kinder hell und frei. Nur eines empinden die Spinnenhirnkinder als Mangel, wenn sie die Verhältnisse, in denen sie leben, vergleichen mit denen der Dorfbewohner, nämlich daß die Bauern milchspendende Kühe besitzen, während ihre Elter die Milch literweise kaufen müssen, daß die Bauern Korn von den Feldern ernten, während sie um jedes Kilo Mehl zum Händler gehen müssen, daß die Bauern Schweine schlachten können, währen sie den Metzger behelligen müssen.
Eines Tages tritt Fritz, der Aelteste, Zwölfjährige , hinein in die Dichterstube, wo Vater Spinnenhirn – zu seinen Ehren sei es gesagt – nicht nur mit dem Hirn, sondern auch mit dem Herzen arbeitet, und sagt: „Vater, kauf eine Sau!“ „Ich bin Dichter und nicht Viehhändler“, entgegnet Vater Spinnenhirn und denkt, mit diesen Worten seinen Kronprinzen mattgesetzt zu haben, doch er hat sich geirrt. „Auch Dichter essen gerne Schweinebraten“, philosophiert Fritz. „Das ist richtig“, meint Vater Spinnenhirn, „wir kaufen demnächst wieder ein Kilo Schweinefleisch, eine ganze Sau aber ist für einen Dichter unerschwinglich“.
Fritz zieht sich zurück. Soviel weiß er längst, daß Dichter unmöglich viel Geld haben können, wenn sie echte Dichter sind, und daß man ohne Geld keine Sau kaufen kann, das vermag er ebenfalls zu begreifen. Die Tatsache, daß Dichter und Dichterskinder nicht wie Bauern und Bauernkinder in den Genuß eines Schweines kommen können, dünkt Fritz eine schreiende Ungerechtigkeit, und weil er – wie die meisten Buben in seinem Alter – einen ausgesprochenen Sinn für Gerechtigkeit besitzt, wird ihm diese Tatsache zum Notstand, den er wenden muß. Fritz Spinnenhirn denkt bei Tag und Nacht an der Angelegenheit herum und schließlich findet er eine Lösung, die er mit jugendlichem Ungestüm in die Wirklichkeit umsetzt. Zu Helfern hat er seine drei Geschwister ausersehen, die von seinen Absichten begeistert sind. Sie beschließen bei der Durchführung ihrer Pläne nach zwei Grundsätzen zu handeln: Erstens, zäh, ausdauern und ohne falsche Scham zu sein, und zweitens ihren Eltern nichts zu sagen, damit die Freude und Überraschung für sie nachher umso größer wird.
Zunächst setzen die beiden Buben Fritz und Wolfgang ihre Laubsägewerkzeuge in Tätigkeit und basteln vier Holzhäuslein zurecht, in deren Dach je ein Schlitz an Stelle des Schornsteins angebracht ist. Diese Schlitze sind die einzige Oeffnung , die ins Innere der vier Häuslein führen, alles andere ist fest ineinandergefügt, vernagelt und verleimt. Das bedeutet, daß nichts aus den Häuslein heraus kann, was einmal hineingekommen ist; man muß sie später aufbrechen, wenn man in den Genuß ihres Inhalts gelangen will . Die beiden Mädchen Herzelinde und Henriette, neun und sieben Jahre alt, bemalen die Häuslein mit leuchtenden Farben. Auf jedem Häuslein prangen die Ueberschriften: „Villa Fritz“ und „Villa Wolfgang“, „Villa Herzelinde“ und „Villa Henriette“. Sie hätten zwar noch lieber „Sau -Sparkasse“ draufgeschrieben, aber sie ließen es bleiben, weil sonst ihre Eltern gemerkt hätten, was gespielt wurde.
Nunmehr lautet die Losung, möglichst viel Inhalt in die Häuslein hineinzubekommen. Wenn Fritz für seinen Vater zur Post gehen muß, sagt er „das kostet zehn Groschen „und hält ihm die „Villa Fritz“ unter die Nase. Vater Spinnenhirn wirft auch gewöhnlich zehn Groschen in den Schlitz, weil er auf dem Standpunkt steht, daß man den Sparsinn bei Kindern fördern muß. Zehn Groschen kann man fast immer entbehren. Wenn Wolfgang irgendwo ein ungeputztes Fahrrad stehen sieht, macht er den Besitzer ausfindig und erbietet sich, für dreißig Groschen das Fahrrad zu reinigen. Er bekommt viele Aufträge, weil sich gerne jedermann von solchen Beschäftigungen drückt. Da er sauber arbeitet, wird Wölfgang ein vielbeschäftigter Mann, dem bald kein Fahrrad mehr in der ganzen Gegend fremd ist. Die „Villa Wolfgang“ wird zunehmend gewichtiger. Wenn Herzelinde Staub wischen oder Schuhe putzen muß, kostet das jeweils zehn Groschen, die in den Schlitz der „Villa Herzelinde“ wandern. Mama Spinnenhirn steht bezüglich des Sparens auf dem gleichen Standpunkt wie ihr Ehegatte. Henriette, das Nesthäkchen, lernt in der Schule gut. Wenn sie eine ausgezeichnete Note mit nach Hause bringt, fordert sie von ihren Eltern dafür klingenden Lohn, der dann im Bauch der „Villa Henriette“ verschwindet . Oft bekommt sie sowohl Samstag vom Vater wie von der Mutter diesen klingenden Lohn, weil die kleine Schlaubergerin beide unabhängig voneinander bearbeitet.
Wenn es im Dorf etwas zu tun gibt, dann sind die Spinnenhirnkinder dabei. Das Essen, das man ihnen als Entgelt für ihre Dienstleistungen anbietet, lehnen sie jeweils freundlich, aber entschieden ab. Zu essen bekämen sie genug zu Hause. Aber ein paar Groschen für ihre Sparkasse nehmen sie gerne an. Und diese Groschen bekommen sie fast immer, denn gerade die Bauern haben einen ausgeprägten Sinn für Sparsamkeit.
Es gibt keine Gelegenheit, die Fritz und Wolfgang, Herzelinde und Henriette vorübergehen lassen, um kleine — und noch besser größere Beträge für ihre „Villen“ zu bekommen. Ihr Ehrgeiz wächst, ihr Sparsinn wird ausgebildet, ihre Einstellung zum Leben wird reifer, ihr Verständnis für jegliche Arbeit ausgeprägter, ihr Verhältnis um Geld durchdachter, sie können plötzlich ihren Vater verstehen, wenn er sich Brotsorgen macht. Sie haben erfahren, daß es nicht leicht ist, Geld zu verdienen, und sie lernen aus dieser Erfahrung, daß man Achtung haben muß vor jeder Art fleißiger Erwerbstätigkeit.
Die „ Villa Wolfgang“ ist zuerst voll. Ihr Besitzer läßt aber nicht in seinem Spareifer nach, sondern hilft seiner kleinen Schwester Henriette, daß auch ihre „Villa“ voll wird. Dann ist bald auch die „Villa Fritz“ so weit , und mit aller Unterstützung die „Villa Herzelinde“. Nach sieben Monaten haben es die Kinder geschafft. Sie können die Dächer ihrer vier Sparkassen abdecken. Sie haben annähernd zweihundert Schilling zusammengebracht . Sie sind selbst erstaunt über diese Summe.
Noch mehr aber wundert sich der Metzger, der mit Schweinen handelt und der bei den Bauern der Gegend hausschlachtet. Als Fritz und Wolfgang, Herzelinde und Henriette bei ihm erscheinen, um ein Schwein zu kaufen, erkundigt er sich, wo sie das Geld herhaben und wie sie auf diesen Einfall gekommen sind. Er hat seine helle Freude an den Kindern. Das Ende vom Lied ist, daß er den vier Kindern eine prächtige Dreizentnersau zum Selbstkostenpreis abgibt, und daß er sich erbietet, diese Dreizentnersau zu schlachten, ohne Schlachtgeld zu verlangen. Am meisten erstaunt und erfreut sind allerdings die Eltern Spinnenhirn, als ihnen das von ihren Kindern gekaufte Borstentier geschlachtet ins Haus gebracht wird. Es gibt eine Schlacht-Partie wie noch nie. Die Eltern sind mächtig stolz auf solche Kinder und auch die Kinder selbst sind unbändig stolz auf ihre schöne Leistung. So ist der Dichter Spinnenhirn doch noch zu einer Dreizentnersau gekommen. Und die vier Dichterskinder bauen bereits wieder neue und größere Sparkassenhäuslein, weil sie den Wert des Geldes und den Sinn des Sparens kennen gelernt haben.