das hochhaus auf dem bismarckplatz
eine erkenntniskritische betrachtung von architekt prof. j. manfreda
Erschienen: Allgemeiner Tiroler Anzeiger / 7. Juni 1930
Über diesen Text...
Das von Lois Welzenbacher geplante und 1927 fertiggestellte E.W.I. Hochhaus am Bismackplatz, heute das IKB Gebäude in der Salurnerstraße, sorgte auch Jahre nach seiner Inbetriebnahme noch für rege Diskussionen. Der gesamte Artikel ist in Kleinbuchstaben verfasst, was als Analogie zu den zifferlosen Uhrblättern am Hochhaus dienen soll.
Der Artikel
als vor ungefähr 20 jahren architekt adolf loos mit dem hause am michaelerplatz in wien, mit der gänzlich kahlen fassadenwand, in der nur die quadratischen fensterlöcher eingeschnitten waren, auf den plan trat, brauste ein sturm der entrüstung durch die wiener kunst- und laienwelt (gab es doch im wiener gemeinderat eine erregte „looshausdebatte“). ich selbst, obwohl ich gerade einen prominenten führer der modernen österreichischen kunst zum lehrer hatte, konnte mich zunächst für diese bauliche nüchternheit – heute sagen wir sachlichkeit – auch nicht erwärmen. es fehlte nicht an spöttern dieser neuesten architektur, so hieß es damals in einer größeren wiener tageszeitung: kunstbrütend ging der modernste der architekten durch die straßen wiens – loos wurde darunter vor einem kanalgitter stehend und dasselbe anstarrend abgebildet und fand, was er so lange vergeblich suchte.
was nun damals als eine ausgeburt der kunstlosigkeit galt und von publikum, behörden und presse für unmöglich erklärt wurde, finden wir heute in noch gesteigertem maße in allen größeren städten deutschlands und frankreichs vom publikum als eine selbstverständlichkeit hingenommen. selbst in innsbruck sind einige neu- und umbauten (hochhaus, bauernheim usw.) aus diesem neuen gesichtspunkt der sachlichkeit erstanden. bald werden wir uns auch mit der uhr, die statt der ziffern bloße einzelstriche zeigt, befreundet haben, und es wird nur mehr eine frage der zeit sein, dass – so wie die loossche zweckmanifestation und die abstrahierung der stundenziffern – auch in unserer schrift nur noch die kleinbuchstaben aus rationalen und ökonomischen gründen verwendung finden werden. abgesehen davon, dass eine solche durchführung in der deutschen schrift eigentlich gar nicht neu, sondern nur eine regeneration darstellt und die kleinbuchstabenschrift ohne anzeichen der mangelhaftigkeit in vielen fremdsprachen besteht, würde sie gewiss die geschäftswelt ohne widerstand aufnehmen (man denke nur an die vereinfachung der schreibmaschinenmanipulation und der schriftsetzerarbeit, an die einfachheit des sprachlichen unterrichts usw.).
was uns kunstjünger damals in der allgemein schulmäßig anerzogenen besangenheit für architektonischen aufputz durch die zwar vernünftige aber revolutionäre idee an dem loosschen hause ungeheuerlich erschien, wurde aber bald durch innere erkenntnis aufgehellt. als ich vor 10 jahren, von wien kommend, die trotzen innsbrucks durchschritt, hatte ich schon den stillen wunsch, alle die überflüssigen, nichtssagenden, schweren gesimse und stuckverzierungen, womit unsere neueren häuser (anichstraße, bürgerstraße u. a. m.) „angeklebt“ und „verziert“ sind, heruntergeschlagen zu sehen – was übrigens nach einigen jahren an einzelnen stellen geschah (postgebäude, bauernheim usw.).
das gegenwärtig so häufig in der beurteilung von bauwerken zu tage tretende missfallen an den kahlen mauerflächen ist ein natürliches, reaktionäres empfinden unseres verwöhnten auges, das die straßen überwiegend mit schweren gesimsen und fensterumrahmungen überladen sieht. daher ist auch die strikte ablehnung der neuen baukunst, sofern diese nicht offensichtliche verstöße gegen vernunft und geschmack zeigt, sehr ungerecht. man darf nicht vergessen, dass der nichtfachmann und durchschnittsmensch, sogar manche künstler, im urteil zumeist konventionell belastet sind und deshalb keinen anspruch auf wirkliche objektivität haben können.
um nicht missverstanden zu werden, muss ich an dieser stelle ausdrücklich feststellen, dass ich mich bei der äußeren ausgestaltung der wohnhausbauten ganz entschieden gegen die uniforme kahlheit der fabriksbauart, wie sie auch größtenteils das hochhaus zeigt, ausspreche. wir haben in tirol in den altstädten beispiele genug, die zeigen, wie man selbst bei einfachster bauart eine gewisse wärme und eigenart erreichen kann. nun wollen wir versuchen, das hochhaus aus dem geiste unserer zeit heraus zu beurteilen. dabei müssen wir uns aber vom banne bestimmter, überlieferter anschauungen möglichst loslösen, um dadurch jene einseitigen urteile auszuschließen, die heute keine innere berechtigung mehr haben. wurden nicht auch durch das gewohnheitsmäßige festhalten des publikums an überkommenen ästhetischen rechtssätzen die maler courbet und delacroix als „nicht klassisch“, leibl und liebermann als „zu naturalistisch“ verschrien? und was musste die kunst richard wagners erleiden? natürlich muss ein echter, wahrer kritiker vor allem ein klares auge und ein gesundes, mit vernunft gepaartes empfinden besitzen und sich gegen künstlerische verzerrungen und effekthaschereien aller „fortschrittlicher“ künstler, die ihr schaffen als sehertum vorzutäuschen suchen, gehörig zu verwahren wissen.
wir uns schließlich der tatsache eingedenk, dass es nicht darauf ankommt, ob ein gebäude gut oder schlecht ist, nicht von liegenden fenstern oder vom flachen dach, auch von keiner dekorationsromantik und keinem maschinenfanatismus, sondern von der ehrlichen, wirklich vorwärtsschreitenden gesinnung eines baukünstlers. welzenbacher baut derzeit neuzeitlich nordisch und hat damit auch den besten erfolg erzielt. seine art gefiel in deutschland, man berief ihn dorthin. es ist damit auch nicht verwunderlich, wenn das hochhaus als ein stolzer repräsentant der großstadtarchitektur des flachlandes nicht in unsere gebirgswelt passt – das ist vielleicht die größte schwäche des baues.
das wesentliche an dieser hochhausfrage ist aber, wie gesagt, nicht so sehr, ob das hochhaus nach tirol passt oder nicht passt, auch nicht die wenigen attrappenhaften zugaben, sondern die tat, die zur entstehung eines neuen stils beiträgt.