Dollfußsiedlung & Fischersiedlung

Weingartnerstraße

Hofburg Innsbruck

Die wohlgeordneten Häuschen in der Siedlung im Westen der Stadt mit den Vorgärten an der ruhigen Straße erinnern an eine typische US-amerikanische Vorstadt. Anders als die Vorstädte auf der anderen Seite des Atlantiks entstand der Sieglanger schon vor dem Krieg. Auf historischen Karten kann man die Unterschiede zwischen dem unverbauten Zustand 1930 in verschiedenen Etappen bis hin zur verdichteten Siedlung ab 1980 nachverfolgen. Anfang der 1930er Jahre, die Weltwirtschaftskrise hatte mittlerweile auch in Tirol die Nachkriegszeit abgelöst, stand die Stadt Innsbruck vor einem Dilemma. Die Stadtkasse war leer bei gleichzeitig steigendem Zuzug nach Innsbruck. Die Menschen kamen in die Stadt, um Arbeit zu finden, obwohl die Arbeitslosigkeit auch hier für heutige Verhältnisse unvorstellbar groß war. Schätzungen zu Folge war in den frühen 1930er Jahren jeder vierte erwachsene Österreicher arbeitslos. Verstärkend hinzu kam die Inflation, die, ganze Vermögen vernichtete. In dieser Zeit entstand im Osten Innsbrucks zwischen der heutigen Gumppstraße und dem Langen Weg die Bocksiedlung, eine wilde Ansammlung von Baracken, die mehr oder minder von der restlichen Stadt abgespalten bis in die frühen 1960er Jahre autonom verwaltet wurde. Das Gebiet am Sieglanger war ein Lehen des Stiftes Wilten gewesen, auf dem im 15. Jahrhundert ein Ansitz entstanden war, das heutige Schloss Mentlberg. Im 19. Jahrhundert entstand auf dem Gelände, auf dem heute das im Volksmund noch immer Zieglstadl genannte Gefängnis steht, eine Ziegelei, die ein großer Arbeitgeber war. Der heutige Sieglanger am Inn war als Untere Figge bekannt und unverbaut. Deshalb begann man unter Bürgermeister Franz Fischer und Bundeskanzler Engelbert Dollfuß den kommunalen Wohnbau voranzutreiben. Dafür bedurfte es allerdings der Hilfe der Republik, allein konnte die Kommune diese Pläne nicht finanzieren. Die Gebäude, die errichtet wurden, spiegelten den Willen des austrofaschistischen Regimes des österreichischen Ständestaats unter Kanzler Engelbert Dollfuß und seines Nachfolgers Kurt Schuschnigg wider. Jakob Alberts als Baudirektor der Stadt setzte dieses Projekt ohne seinen sonst häufigen Partner in der Planung Theodor Prachensky um. Anders als die großen Bauten, die aus dem von vielen verhassten „roten“ Wien kamen und sich in Blöcken wie Burgen um Innenhöfe anordneten, sollten die kleinen, alleinstehenden Häuser mit Vorgarten eine ländliche Idylle simulieren. Die bäuerliche Familie als katholische Keimzelle sollte dem sozialistischen Ideal der großen, republikanischen Gemeinschaft entgegenstehen. Der Gedanke, der hinter dem Sieglanger stand, war also identisch mit dem Gedanken den US-amerikanische konservative Politiker in der Nachkriegszeit auf den Neubau ihrer Vorstädte hatten, ohne den bäuerlichen Charakter selbstverständlich. Ab 1934 entstanden die einzelnen Siedlungen. Eine Siedlung wurden nach dem Innsbrucker Bürgermeister Franz Fischer in Fischersiedlung benannt, die zweite, die von der Baugesellschaft Heim errichtet worden war von Siglanger Nr 61 – 93 wurde Dr-Dollfuß-Siedlung getauft. Die zukünftigen Bewohner halfen bei der Errichtung ihrer Heimstätten mit. Ähnlich wie in der Höttinger Au wurden auch Selbstversorgergärten angelegt. Ideologisch betrachtet war diese Siedlung im Westen der Stadt das Gegenteil von den Projekten in wie der Mandelsbergersiedlung in Wilten oder dem Pembaurblock in Pradl. Trotz vieler Umbauten sind die Häuschen mit dem markanten spitzen Dach vielfach noch heute erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine Verdichtung der Siedlung. 1964 kam es zum Bau der Autobahn, die den Sieglanger heute nach Norden hin wenig pittoresk begrenzt. Mittlerweile ist der Sieglanger keine Sozialsiedlung mehr, sondern ein wohlgeordneter Stadtteil am westlichen Stadtrand Innsbrucks in direkter Nachbarschaft zum Schloss und Kirche Mentlberg.

Die Zeit des Austrofaschismus

Die Zeit zwischen dem Jahr 1933 und dem Anschluss an Nazideutschland 1938 ist eines der widersprüchlichsten und am schwersten einzuordnenden Kapitel österreichischer Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich in Österreich, vereinfacht erklärt, zwei Blöcke politisch etabliert, die das Land mehr und mehr spalteten. Christlich-soziale und sozialdemokratische Gegensätze prägten nicht nur die politische Landschaft, auch im sozialen wurden die Mitglieder der jeweiligen Fraktion in ihrer Weltsicht geprägt. Die Frontlinie verlief zwischen Stadt und Land, zwischen progressiv und konservativ. Die Wahlen von 1927 zeigten, dass die Sozialdemokratie ein Potential von 25% hatte, die Wähler sich aber mehr oder minder einzig und allein auf Innsbruck konzentrierten. In den Dörfern war der Wähleranteil der Christlichsozialen teilweise bei 100%. Durch die kleinbäuerliche Struktur, die sich während der Monarchie in Tirol gebildet hatte, der Landverteilung und dem Fehlen nennenswerter Industrie besaßen die Dörfer rund um Innsbruck mehr politisches Gewicht. Die kommunistische Revolution in Russland mit dem darauffolgenden blutigen Bürgerkrieg war das Schreckgespenst, das auch in Tirol umging. Jede Klientel bewegte sich im eigenen Mikrokosmos was Umfeld, Meinungsbildung und Medien anbelangte. Lebensreformer wie Josef Prachensky (108), Liberale und Sozialisten vertraten eine städtische Gegenbewegung zum konservativ christlich geprägten Großteil der Bevölkerung. Sitten, Moral, Ernährung, Freizeitgestaltung, Erziehung, Glaube, Rechtsverständnis – kurzum jeder Lebensbereich war betroffen. Dazu kam die wirtschaftliche Not, die ein Großteil der Bevölkerung zu erleiden hatte. Trotz der Bemühungen um 1900 modernen Wohnraum zu schaffen, hausten noch immer viele Innsbrucker in Bruchbuden. Badezimmer oder ein Schlafraum pro Person war die Ausnahme. Die Stadt selbst war ein größeres Dorf. In Innsbruck zeugen unterschiedlichste Projekte der Zeit wie der Pembaurblock (58), das Städtische Hallenbad (61) oder das Weyrerareal (47) die Entwicklung der 1920er Jahre. Im Chaos der Nachkriegszeit hatten sich auf beiden Seiten nichtstaatliche Wehrverbände gebildet, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, war die reguläre Exekutive doch heillos mit der Situation überfordert. Aus diesen Wehrverbänden bildeten sich bewaffnete Arme der einzelnen politischen Parteien. Der Republikanische Schutzbund auf Seiten der Sozialdemokraten und die christlich-sozial orientierten Heimwehren, der Einfachheit halber sollen die unterschiedlichen Gruppen unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, feindselig gegenüber. Die Heimwehren wurden von den rechtsgerichteten Regimen Italiens und Ungarns mit Waffenlieferungen und Geld unterstützt. Das rote Wien war wie die Industriezentren Österreichs sozialdemokratisch geprägt, ländliche Gegenden wie Tirol zu großen Teilen christlich-sozial. Viele Politiker, darunter sowohl Sozialdemokraten wie Otto Bauer, Theodor Körner und Julius Deutsch aber auch Christlichsoziale wie Engelbert Dollfuß, Kurt Schuschnigg oder Julius Raab hatten im Krieg an der Front gekämpft und waren dementsprechend militarisiert. Ein großer Teil der Bevölkerung war es ebenfalls. Auch die schlechte wirtschaftliche Lage trug in der Zwischenkriegszeit zur Radikalisierung bei. Der größte Gewaltausbruch im heutigen Innsbrucker Stadtgebiet war die Höttinger Saalschlacht von 1932 gewesen, in deren Folge der Führer der Tiroler Heimwehr und auch auf Bundesebene bedeutende Politiker Richard Steidle (1881 – 1940) verletzt wurde.

Die Heimwehren hatten sich 1930 mit dem Korneuburger Eid mehr oder minder offiziell einem diktatorischen und autoritären Kurs abseits der Demokratie zugewandt. Mit dem Heimatblock hatten sie auch eine politische Partei im Parlament. Federführend an dieser Radikalisierung der vereinten Heimwehren war Richard Steidle, der als Bundesführer des Dachverbandes des Österreichischen Heimatschutzes auftrat. Nachdem es 1933 zu einer Parlamentskrise gekommen war, hatte der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (1892 – 1934) unter Berufung auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1917 die Demokratie nach und nach ausgehebelt. Auch die freie Presse fiel den Maßnahmen zur Machtübernahme zum Opfer. In Tirol wurde 1933 zum Beispiel die Tiroler Wochenzeitung neu gegründet um als Parteiorgan zu fungieren. Das Ziel Dollfuß´ war die Errichtung des sogenannten österreichischen Ständestaats, einem Einparteienstaat ohne Opposition unter Beschneidung elementarer Rechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit. Dollfuß stammte aus der kleinen ländlichen Gemeinde Texingtal in der niederösterreichischen Provinz. Er hatte im Ersten Weltkrieg (107) an der Front in Südtirol gedient und anschließend über den Cartellverband der katholischen Studentenverbindungen politische Karriere in der Christdemokratischen Partei gemacht. Er war Agrarexperte und ein mitreißender, charismatischer Redner. Von Konkurrenten wurde er ob seiner Größe als Mini-Metternich verspottet. 1932 war er zum Kanzler gewählt worden. Der Ständestaat stützte sich auf die katholische Kirche und ein schwer zu durchschauendes und vages System von berufsständischen Vereinigungen, die den Kanzler in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen beraten sollten. Das Endziel war ein autoritäres, katholisches Staatsgebilde ähnlich dem monarchischen Feudalstaat. Der gesamte Staatsapparat und die Staatsbürger sollten analog zum Faschismus Mussolinis in Italien unter der Vaterländischen Front geeint werden. Antisozialistisch, autoritär, konservativ im Gesellschaftsbild, antidemokratisch, antisemitisch, militärisch. Diese Grundpfeiler hätten im totalitären Ständestaat unter christlich-sozialer Führung Bürger bereits vom Jugendalter über die Mitgliedschaft in verschiedensten Vereinigungen gleichschalten sollen. Die Umsetzung der Pläne konnte aber wegen der notorischen Geld- und Mittelknappheit der Regierung nach der Wirtschaftskrise nur bedingt stattfinden. Diese Mittelknappheit verhinderte auch in Innsbruck den Umbau der Stadtregierung und das Durchregieren von oben nach unten. Bürgermeister Innsbrucks blieb Franz Fischer, der als zweiter Landesführerstellvertreter der Tiroler Heimatwehr einen ähnlichen politischen Hintergrund hatte wie Richard Steidle. Sozialdemokratie und NSDAP wurden gleichermaßen verboten, wenn auch gegen die Sozialdemokraten und den Republikanischen Schutzbund wesentlich härter vorgegangen wurde als gegen die Nationalsozialisten, mit denen man immer wieder eine Verständigung suchte. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, wuchs die Anzahl der illegalen Nationalsozialisten weiter an. Einer dieser „Illegalen“ war der spätere Gauleiter Hofer (111), der wie viele seiner Kameraden über die Grenze nach Deutschland flüchtete. In Innsbruck kam es immer wieder zu kleineren Zusammenstößen zwischen den verfeindeten Gruppen der Sozialdemokraten, Nationalsozialisten und der Heimwehren. Schlimmer war es allerdings im Osten Österreichs. Immer wieder erschütterten nationalsozialistischer Terror und Bombenanschläge die Republik. 1934 entluden sich die Spannungen zwischen Vaterländischer Front, Exekutive, Militär und dem Republikanischen Schutzbund in einem kurzen Bürgerkrieg. Im Februar 1934 kam es in vielen Städten, vor allem in den Industriezentren wie Linz und Steyr und den Arbeitervierteln in Wien zu einem kurzen Bürgerkrieg, der mit der endgültigen Zerschlagung der Sozialdemokratie endete. Innsbruck blieb von diesen Vorgängen mehr oder minder unberührt, die konservativen Kräfte und die Heimwehr hatten hier zum größten Teil eine erdrückende Mehrheit. Dollfuß war in Tirol überaus populär, wie Aufnahmen des vollen Platzes vor der Hofburg während einer seiner Ansprachen aus dem Jahr 1933 zeigen. Er traf mit seinem konservativen Weltbild den Geschmack der Zeit. 1931 hatten sich einige Tiroler Bürgermeister zusammengeschlossen, um das Einreiseverbot für die Habsburger (107) aufheben zu lassen. Das unausgesprochene Fernziel war die Wiedereinsetzung der Monarchie. Dollfuß´ katholisch motivierte Politik war das, was der Habsburgermonarchie am nächsten kam und auch von der Kirche unterstützt wurde. So war zum Beispiel die Geschlechtertrennung an Schulen und die Umgestaltung der Lehrpläne für Mädchen bei gleichzeitiger vormilitärischer Ertüchtigung der Buben im Sinn vieler Menschen, vor allem in den konservativen Dörfern Tirols.

Am 25. Juli 1934 kam es in Wien zu einem Putschversuch der verbotenen Nationalsozialisten, bei dem Dollfuß ums Leben kam. Der Juliputsch kostete insgesamt 105 Menschen das Leben. In Innsbruck wurde daraufhin auf „Verfügung des Regierungskommissärs der Landeshauptstadt Tirols“ der Platz vor dem Tiroler Landestheater als Dollfußplatz geführt. Hier hatte sich Dollfuß bei einer Kundgebung zwei Wochen vor seinem Tod noch mit dem Heimwehrführer Richard Steidle getroffen. Bis nach Tirol waren Wellen nach diesem politischen Beben zu spüren, wenn auch, dank mangelhafter Organisation, nur schwach und ohne nennenswertes Resultat und offiziell nur einem Opfer. Der SS-Mann Fritz Wurnig erschoss den Leiter der städtischen Sicherheit Franz Hickl. Wurnig wurde standrechtlich zum Tode verurteilt und starb am Galgen. Dollfuß´ Nachfolger Kurt Schuschnigg (1897 – 1977) war gebürtiger Tiroler und Mitglied der Innsbrucker Studentenverbindung Austria. Er betrieb lange Zeit eine Rechtsanwaltskanzlei in Innsbruck. 1930 gründete er eine paramilitärische Einheit mit namens Ostmärkische Sturmscharen, die das Gegengewicht der Christlich-Sozialen zu den radikalen Heimwehrgruppen bildeten. Nach dem Februaraufstand 1934 war er als Justizminister im Kabinett Dollfuß mitverantwortlich für die Hinrichtung mehrerer gefangener Sozialdemokraten. Sein politisches Ziel als Kanzler war es, Österreich als besseren, katholischen deutschen Staat zu platzieren. Mit den Nationalsozialisten teilte er zwar den Antisemitismus, ansonsten stand er, wie schon Dollfuß, Hitler ablehnend gegenüber. Die Kulturnation Österreich war dem barbarischen Regime der Nationalsozialisten, die die katholische Kirche ablehnten, in seinen Augen weit überlegen. Auch er regierte autoritär und stützte sich auf die katholische Kirche. Schuschniggs Problem war die weiterhin schlechte Wirtschaftslage. Die Einschränkung der sozialen Fürsorge, die zu Beginn der Ersten Republik eingeführt worden war, sorgte für Ernüchterung. Langzeitarbeitslose, die Arbeitslosenquote lag 1933 bei 25%, wurden vom Bezug von Sozialleistungen als „Ausgesteuerte“ ausgeschlossen. Auch für die chronisch überschuldeten Kleinbauern wurde es immer härter den Alltag zu bewältigen. In Innsbruck entstanden zu dieser Zeit die Baracken der Bocksiedlung, in denen sich die Abgehängten abseits der Gesellschaft sammelten. Während die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg an der Verbesserung des Alltags der Menschen scheiterten, erstarkte die eigentlich illegale NSDAP mit Unterstützung aus Deutschland. Zwischen 1936 wurde der politische Druck sowohl aus dem Inland wie auch aus Deutschland immer größer. Schuschnigg leitete im März 1938 die Verhandlungen mit Hitler zum Anschluss Österreichs. Seinen Lebensabend verbrachte er nach Aufenthalten während der Nazizeit in diversen Konzentrationslagern in Mutters.

Eine Aufarbeitung dessen, was von vielen Historikern als Austrofaschismus bezeichnet wird, ist in Österreich bisher kaum passiert. So sind zum Beispiel in der Kirche St. Jakob im Defereggen in Osttirol oder in der Pfarrkirche Fritzens noch Bilder mit Dollfuß als Beschützer der katholischen Kirche mehr oder minder unkommentiert zu sehen. Auch die Beteiligung der Tiroler Schützen an den Heimwehren und in weiterer Folge am Nationalsozialismus ist noch nicht adäquat aufgearbeitet. In vielen Belangen reicht das Erbe der gespaltenen Situation der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart. Bis heute gibt es rote und schwarze Autofahrerclubs, Sportverbände, Rettungsgesellschaften und Alpinverbände, deren Wurzeln in diese Zeit zurückreichen. In Innsbruck ist bis heute die Franz-Fischer-Straße nach dem damaligen Bürgermeister benannt.