Dreiheiligenkirche
Dreiheiligenstraße 10
Wissenswert
Der Bergwerksboom im Tiroler Unterland samt den dazugehörigen zugezogenen Arbeitern, der Fernhandel und der politische Bedeutungszuwachs Innsbrucks brachten nicht nur Wohlstand. 1512 starben in Innsbruck über 500 Menschen an der Pest, 1543 kam der Schwarze Tod erneut nach Innsbruck. Die Natur schien sich ebenfalls gegen das sündige Treiben in der Stadt zu richten. 1572 wurde Innsbruck von einem Erdbeben stark in Mitleidenschaft gezogen. Dazu kamen regelmäßig Hochwasserkatastrophen und Versorgungsschwierigkeiten wegen Missernten. Viele Menschen neigten in ihrer Frömmigkeit dazu, schlechte Ereignisse auf ihre eigenen Sünden vor Gott zu schieben.
Die Bemühungen der Kirche, dem Zorn Gottes entgegenzuwirken, drückten sich nicht nur in einer möglichst gottgefälligen Lebensweise, sondern auch in prunkvollen Bauten und der Ansiedlung neuer Orden wie den Franziskanern oder den Jesuiten aus. Daneben sorgten sich auch die Stadtverantwortlichen, Landesfürsten und fromme Bürger darum, den Arbeitern und ihren Familien Seelsorge zukommen zu lassen.
Einer dieser frommen Bürger war der Arzt Paul Weinhart (1570 – 1648). Während der Pestepidemie, die 1611 aus der Silberstadt Schwaz nach Innsbruck kam, leitete er als Contagationsarzt das Pestkollegium, das unter anderem das Pesthaus in der Kohlstatt betreute. Seine Ehefrau war ein Opfer der Seuche geworden. Das Zeughaus hatte die Kohlstatt durch die Arbeitskräfte, die in diesem Arsenal benötigt wurden seit den Zeiten Maximilians recht zügig wachsen lassen. Die Arbeiter und ihre Familien, die sich angesiedelt hatten, lebten in Holzbaracken auf engstem Raum unter unhygienischen Verhältnissen, was die Ausbreitung der Krankheit verstärkte. Mit Maßnahmen wie Ausräuchern, Erhöhung der Hygiene und dem beliebten Aderlass versuchten die Ärzte, der Seuche Herr zu werden.
Weinhart beschloss nicht nur seinen Kenntnissen zu vertrauen, sondern das Wohl der Stadt den Pestheiligen Pirmin, Sebastian und Rochus zu überantworten. Er legte ein Gelübde ab, eine Kirche errichten zu lassen, wenn die Pest nur aufhören möge. Auf Drängen des späteren, bei Maximilian III. hoch angesehen Hofarztes Weinhart und der Stadtregierung hin, entschloss sich der Landesfürst zur Stiftung einer Kirche nahe dem Pestkrankenhaus am Stadtrand. Die Mischung aus Glaube und Wissenschaft waren zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich.
Weinhart sah sich selbst nicht nur als Arzt, sondern auch als eine Art Seelsorger für die Pestkranken. Unter den Armen der Stadt war er als mildtätig bekannt und erfreute sich großer Beliebtheit. Gleichzeitig war er mit dem Landesfürsten und den Jesuiten bestens vernetzt. Auch unter Kollegen war Weinhart hoch angesehen. So schrieb der Stadtarzt Halls über die Spaziergänge mit Dr. Weinhart:
„Dieser Spaziergang ist mir, wie auch dem edlen, hochgelehrten meinem herzgeliebten Herrn Brudern Paulo Weinhard dermaßen wohl bekannt und befohlen, daß wir bisher wenig halbe Monate ausgelassen…“
Die Dreiheiligenkirche wurde am 13.10.1613 nach zweijähriger Bauzeit geweiht. Das heutige Pfarrhaus in seiner Grundstruktur, das zuvor als Fürstliches Schafferhaus diente, also als Verwaltungsgebäude über die Kohlstatt, ist älter als die Kirche selbst. Doktor Weinhart ließ sich am Deckenfresko neben dem Jesuiten Melchior Köstlan verewigen.
Wer das Glück hat, in den häufig versperrten Innenraum zu kommen, kann eine zeitgenössische Darstellung der Vorgänge während der Pestepidemie betrachten. Das düstere Bild stellt den Aberglauben der Menschen ebenso detailreich dar wie die Kritik an der Obrigkeit. Die Tiroler Landesregierung hatte die Stadt nach dem Ausbruch der Pest verlassen, was den Künstler dazu anstachelte, sie in einem Palast fernab des Volkes zu zeichnen. Der Schwarze Tod zeigt sich als Gerippe auf schwarzem Pferd mit Bogen und geflügelter Sanduhr. Die Erkrankten waren von den Pfeilen des Gerippes getroffen worden. Ein Erkrankter erhält von einem Geistlichen die Sterbesakramente, während sich der Teufel hinter dessen Sterbebett versteckt. Im Hintergrund sieht man ein Feldlager voller Soldaten, die ebenfalls von Pfeilen getroffen am Boden dahinsiechen.
1863 wurde die Dreiheiligenkirche um ein Vorhallenjoch erweitert. 1900 wurde das markante, von Philipp Schumacher entworfene und von der Tiroler Glasmalerei angefertigte Mosaik an der Fassade angebracht. Die Fassade der Pestkirche zeigt diese drei Heiligen, die seither zu den vielen Schutzpatronen Innsbrucks zählen. Der Heilige Alexius, der Schutzheilige gegen Erdbeben, war als Vierter im Bunde nach der Auflösung des Siebenkapellenareals im 18. Jahrhundert unter Josef II. ebenfalls in die Kohlstatt übersiedelt. Ähnlich wie zu ihrer Entstehungszeit im 17. Jahrhundert ging die neue Fassade ebenfalls nicht auf die Initiative eines Ordens, die Dreiheiligenkirche untersteht nicht wie die meisten Pfarreien den Prämonstratensern, sondern wurde von Mäzen gesponsort. Anders als damals war es aber nicht der Landesfürst, sondern es war die „Munificenz der Sparkasse der Stadt Innsbruck unter deren Vorstand Anton von Schumacher, Handelskammerpräsident u. deren Director Dr. Heinrich Falk, Altbürgermeister“ die die Neugestaltung ermöglichte.
Der Deutsche Orden & Maximilian III.
Maximilian III. (1558 – 1618) war nicht nur Gubernator von Tirol und Vorderösterreich, sondern auch Erzherzog von Österreich, Administrator von Preußen und Hochmeister des Deutschen Ordens. Der fromme und sittenstrenge Habsburger nimmt zwischen den Exzentrikern Ferdinand II. und Leopold V. den undankbaren Mittelsitz ein, weshalb er in der Erinnerung vieler Tiroler nicht fix verankert ist. Maximilian der Deutschmeister trat seinen Posten als Gubernator von Tirol und Vorderösterreich 1602 offiziell an. Er war ein frommer und tiefgläubiger Mensch. Wie viele Habsburger musste er die christliche Nächstenliebe auf eigenartige Weise mit dem Amt des Landesfürsten unter einen Hut bringen. Er zog sich regelmäßig für lange Perioden in die Abgeschiedenheit seiner Studierstube ins 1594 gestifteten Kapuzinerkloster zurück, um dort unter bescheidensten Verhältnissen und enthaltsam zu leben. Unter ihm zogen in Innsbruck strenge Sitten ein. Erzählungen nach soll Kindern das Spielen auf der Straße verboten worden sein. Als eifriger Vertreter der Gegenreformation war ihm die Manifestation des katholischen Glaubens ein besonderes Anliegen. Anders als seine Vorgänger wollte er das durch Sittenstrenge anstatt mit protzigen Bauprojekten erreichen. Er beschränkte sich auf die Vollendung bereits begonnener Gotteshäuser wie der Servitenkirche oder der Jesuitenkirche. Die Jesuiten erweiterten unter seiner Regentschaft ihren Bildungsauftrag durch ein Studium der Theologie und Dialektik. Das Dekanat Innsbruck wurde eingerichtet. St. Nikolaus erhielt einen eigenen Priester.
Seine Frömmigkeit schloss wissenschaftliches Interesse und daraus abgeleitete praktische Maßnahmen zum Wohl der Stadt aber nicht aus. Der Jesuit, Physiker und Astronom Christoph Scheiner, einer der Entdecker der Sonnenflecken neben Galileo Galilei, war drei Jahre lang am Innsbrucker Hof Maximilians und erforschte das menschliche Auge. Maximilian ließ sich von ihm ein Fernrohr einrichten und stellte gemeinsam mit Scheiner astronomische Forschungen an. Das Feuerlöschwesen der Stadt und die Hygiene der Ritschen, die als Kanalisation und Wasserquelle dienten, wurden verbessert.
Während seiner Regierungszeit hatte er mit dem Ausbruch einer Pestepidemie zu kämpfen. Die Dreiheiligenkirche in der Kohlstatt, dem Arbeiterviertel der Frühen Neuzeit beim Zeughaus, entstand aus diesem Anlass unter seiner Patronanz. Der Dreißigjährige Krieg brach 1618 unter seiner Regentschaft aus, verschonte Innsbruck aber zu größten Teilen. Im selben Jahr verstarb Maximilian. Sein Grab im Innsbrucker Dom zählt zu den eindrucksvollsten Gräbern der Barockzeit.
Neben ihm begraben liegt auch ein anderer Hochmeister des Deutschen Ordens aus dem Haus Habsburg mit Bezug zu Innsbruck. Erzherzog Eugen war der oberste Befehlshaber der österreichisch-ungarischen Armee an der Italienfront im Ersten Weltkrieg. Der Deutsche Orden zeigt die theologische Denkweise und die Verbundenheit von frommem Glauben und weltlicher Macht der Frühen Neuzeit anschaulich. Ergebene Frömmigkeit und Gottesfurcht traf in der Zeit bis 1500 häufig auf die Ausübung von weltlicher Macht. Der Orden wurde als Ritterorden um 1120 im Rahmen der Kreuzzüge in Jerusalem gegründet. Kirche und Rittertum vereinten sich, um Pilgern den Besuch der Heiligen Städten, vor allem der Grabeskirche, gefahrlos zu ermöglichen. Nach der Vertreibung aus Palästina engagierten sich die Ritter des Deutschen Ordens auf Seiten christlicher Magyaren in Siebenbürgen im heutigen Rumänien gegen heidnische Stämme. Im 13. Jahrhundert konnte der Orden unter Hermann von Salza im Baltikum im Kampf gegen die heidnischen Prußen viel Land gewinnen und den Deutschordensstaat errichten. Der christliche Orden trat als eine Art Staatlichkeit auf, die sich ähnlich den religiösen Fundamentalisten heute, auf Gott berief und dessen Ordnung auch auf Erden herstellen wollte. Es waren die Ideale wie christliche Nächstenliebe und der Schutz der Armen und Hilflosen, die auch den Deutschen Orden in seinem Kern antrieben. Damit passte er ideal zum Herrscherhaus Habsburg. Nach dem Niedergang des Ordens im 15. Jahrhundert in Nordosteuropa behielt der Orden durch geschickte Verbindung zum Adel und zum Militär vor allem im Habsburgerreich noch Besitzungen und Macht.
Barock: Kunstrichtung und Lebenskunst
Wer in Österreich unterwegs ist, kennt die Kuppen und Zwiebeltürme der Kirchen in Dörfern und Städten. Diese Form der Kirchtürme entstand in der Zeit der Gegenreformation und ist ein typisches Kennzeichen des Architekturstils Barock. Auch in Innsbrucks Stadtbild sind sie vorherrschend. Die bekanntesten Gotteshäuser Innsbrucks wie der Dom, die Johanneskirche oder die Jesuitenkirche, sind im Stile des Barocks gehalten. Prachtvoll und prunkvoll sollten Gotteshäuser sein, ein Symbol des Sieges des rechten Glaubens. Die Religiosität spiegelte sich in der Kunst und Kultur wider: Großes Drama, Pathos, Leiden, Glanz und Herrlichkeit vereinten sich zum Barock.
Das Stadtbild Innsbrucks veränderte sich enorm. Die Gumpps und Johann Georg Fischer als Baumeister sowie die Bilder Franz Altmutters prägen Innsbruck bis heute nachhaltig. Das Alte Landhaus in der Altstadt, das Neue Landhaus in der Maria-Theresien-Straße, die unzähligen Palazzi, Bilder, Figuren – der Barock war im 17. und 18. Jahrhundert das stilbildende Element des Hauses Habsburg und brannte sich in den Alltag ein. Das Bürgertum wollte den Adeligen und Fürsten nicht nachstehen und ließen ihre Privathäuser im Stile des Barocks errichten. Auf Bauernhäusern prangen Heiligenbilder, Darstellungen der Mutter Gottes und des Herzen Jesu.
Barock war nicht nur eine architektonische Stilrichtung, es war ein Lebensgefühl, das seinen Ausgang nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges nahm. Die Türkengefahr aus dem Osten, die in der zweimaligen Belagerung Wiens gipfelte, bestimmte die Außenpolitik des Reiches, während die Reformation die Innenpolitik dominierte. Die Barockkultur war ein zentrales Element des Katholizismus und der politischen Darstellung derselben in der Öffentlichkeit, das Gegenmodell zum spröden und strengen Lebensentwurf Calvins und Luthers. Feiertage mit christlichem Hintergrund wurden eingeführt, um den Alltag der Menschen aufzuhellen. Architektur, Musik und Malerei waren reich, füllig und üppig. In Theaterhäusern wie dem Comedihaus in Innsbruck wurden Dramen mit religiösem Hintergrund aufgeführt. Kreuzwege mit Kapellen und Darstellungen des gekreuzigten Jesus durchzogen die Landschaft. Die Volksfrömmigkeit in Form der Wallfahrten, Marien- und Heiligenverehrung hielt Einzug in den Kirchenalltag. Die Barockfrömmigkeit wurde auch zur Erziehung der Untertanen eingesetzt. Auch wenn der Ablasshandel in der Zeit nach dem 16. Jahrhundert keine gängige Praxis mehr in der katholischen Kirche war, so gab es doch noch eine rege Vorstellung von Himmel und Hölle. Durch ein tugendhaftes Leben, sprich ein Leben im Einklang mit katholischen Werten und gutem Verhalten als Untertan gegenüber der göttlichen Ordnung, konnte man dem Paradies einen großen Schritt näherkommen.
Die sogenannte Christliche Erbauungsliteratur war nach der Schulreformation des 18. Jahrhunderts in der Bevölkerung beliebt und zeigte vor, wie das Leben zu führen war. Das Leiden des Gekreuzigten für die Menschheit galt als Symbol für die Mühsal der Untertanen auf Erden innerhalb des Feudalsystems. Mit Votivbildern baten Menschen um Beistand in schweren Zeiten oder bedankten sich vor allem bei der Mutter Gottes für überstandene Gefahren und Krankheiten. Tolle Beispiele dafür finden sich an der östlichen Fassade der Basilika in Wilten.
Der Historiker Ernst Hanisch beschrieb den Barock und den Einfluss, den er auf die österreichische Lebensart hatte, so:
„Österreich entstand in seiner modernen Form als Kreuzzugsimperialismus gegen die Türken und im Inneren gegen die Reformatoren. Das brachte Bürokratie und Militär, im Äußeren aber Multiethnien. Staat und Kirche probierten den intimen Lebensbereich der Bürger zu kontrollieren. Jeder musste sich durch den Beichtstuhl reformieren, die Sexualität wurde eingeschränkt, die normengerechte Sexualität wurden erzwungen. Menschen wurden systematisch zum Heucheln angeleitet.“
Die Rituale und das untertänige Verhalten gegenüber der Obrigkeit hinterließen ihre Spuren in der Alltagskultur, die katholische Länder wie Österreich und Italien bis heute von protestantisch geprägten Regionen wie Deutschland, England oder Skandinavien unterscheiden. Die Leidenschaft für akademische Titel der Österreicher hat ihren Ursprung in den barocken Hierarchien. Der Ausdruck Barockfürst bezeichnet einen besonders patriarchal-gönnerhaften Politiker, der mit großen Gesten sein Publikum zu becircen weiß. Während man in Deutschland politische Sachlichkeit schätzt, ist der Stil von österreichischen Politikern theatralisch, ganz nach dem österreichischen Bonmot des „Schaumamal“.
Glaube, Kirche, Obrigkeit und Herrschaft
Die Fülle an Kirchen, Kapellen, Kruzifixen und Wandmalereien im öffentlichen Raum wirkt auf viele Besucher Innsbrucks aus anderen Ländern eigenartig. Nicht nur Gotteshäuser, auch viele Privathäuser sind mit Darstellungen der Heiligen Familie oder biblischen Szenen geschmückt. Der christliche Glaube und seine Institutionen waren in ganz Europa über Jahrhunderte alltagsbestimmend. Innsbruck als Residenzstadt der streng katholischen Habsburger und Hauptstadt des selbsternannten Heiligen Landes Tirol wurde bei der Ausstattung mit kirchlichen Bauwerkern besonders beglückt. Allein die Dimension der Kirchen umgelegt auf die Verhältnisse vergangener Zeiten sind gigantisch. Die Stadt mit ihren knapp 5000 Einwohnern besaß im 16. Jahrhundert mehrere Kirchen, die in Pracht und Größe jedes andere Gebäude überstrahlte, auch die Paläste der Aristokratie. Das Kloster Wilten war ein Riesenkomplex inmitten eines kleinen Bauerndorfes, das sich darum gruppierte. Die räumlichen Ausmaße der Gotteshäuser spiegelt die Bedeutung im politischen und sozialen Gefüge wider.
Die Kirche war für viele Innsbrucker nicht nur moralische Instanz, sondern auch weltlicher Grundherr. Der Bischof von Brixen war formal hierarchisch dem Landesfürsten gleichgestellt. Die Bauern arbeiteten auf den Landgütern des Bischofs wie sie auf den Landgütern eines weltlichen Fürsten für diesen arbeiteten. Damit hatte sie die Steuer- und Rechtshoheit über viele Menschen. Die kirchlichen Grundbesitzer galten dabei nicht als weniger streng, sondern sogar als besonders fordernd gegenüber ihren Untertanen. Gleichzeitig war es auch in Innsbruck der Klerus, der sich in großen Teilen um das Sozialwesen, Krankenpflege, Armen- und Waisenversorgung, Speisungen und Bildung sorgte. Der Einfluss der Kirche reichte in die materielle Welt ähnlich wie es heute der Staat mit Finanzamt, Polizei, Schulwesen und Arbeitsamt tut. Was uns heute Demokratie, Parlament und Marktwirtschaft sind, waren den Menschen vergangener Jahrhunderte Bibel und Pfarrer: Eine Realität, die die Ordnung aufrecht hält. Zu glauben, alle Kirchenmänner wären zynische Machtmenschen gewesen, die ihre ungebildeten Untertanen ausnützten, ist nicht richtig. Der Großteil sowohl des Klerus wie auch der Adeligen war fromm und gottergeben, wenn auch auf eine aus heutiger Sicht nur schwer verständliche Art und Weise.
Anders als heute, war Religion keineswegs Privatsache. Verletzungen der Religion und Sitten wurde vor weltlichen Gerichten verhandelt und streng geahndet. Die Anklage bei Verfehlungen lautete Häresie, worunter eine Vielzahl an Vergehen zusammengefasst wurde. Sodomie, also jede sexuelle Handlung, die nicht der Fortpflanzung diente, Zauberei, Hexerei, Gotteslästerung – kurz jede Abwendung vom rechten Gottesglauben, konnte mit Verbrennung geahndet werden. Das Verbrennen sollte die Verurteilten gleichzeitig reinigen und sie samt ihrem sündigen Treiben endgültig vernichten, um das Böse aus der Gemeinschaft zu tilgen.
Bis in kleine Details des täglichen Lebens regelte die Kirche lange Zeit das alltägliche Sozialgefüge der Menschen. Kirchenglocken bestimmten den Zeitplan der Menschen. Ihr Klang rief zur Arbeit, zum Gottesdienst oder informierte als Totengeläut über das Dahinscheiden eines Mitglieds der Gemeinde. Menschen konnten einzelne Glockenklänge und ihre Bedeutung voneinander unterscheiden. Sonn- und Feiertage strukturierten die Zeit. Fastentage regelten den Speiseplan. Familienleben, Sexualität und individuelles Verhalten hatten sich an den von der Kirche vorgegebenen Moral zu orientieren. Das Seelenheil im nächsten Leben war für viele Menschen wichtiger als das Lebensglück auf Erden, war dies doch ohnehin vom determinierten Zeitgeschehen und göttlichen Willen vorherbestimmt. Fegefeuer, letztes Gericht und Höllenqualen waren Realität und verschreckten und disziplinierten auch Erwachsene.
Während das Innsbrucker Bürgertum von den Ideen der Aufklärung nach den Napoleonischen Kriegen zumindest sanft wachgeküsst worden war, blieb der Großteil der Menschen in den Umlandgemeinden weiterhin der Mischung aus konservativem Katholizismus und abergläubischer Volksfrömmigkeit verbunden.
Glaube und Kirche haben noch immer ihren fixen Platz im Alltag der Innsbrucker, wenn auch oft unbemerkt. Die Kirchenaustritte der letzten Jahrzehnte haben der offiziellen Mitgliederzahl zwar eine Delle versetzt und Freizeitevents werden besser besucht als Sonntagsmessen. Die römisch-katholische Kirche besitzt aber noch immer viel Grund in und rund um Innsbruck, auch außerhalb der Mauern der jeweiligen Klöster und Ausbildungsstätten. Etliche Schulen in und rund um Innsbruck stehen ebenfalls unter dem Einfluss konservativer Kräfte und der Kirche. Und wer immer einen freien Feiertag genießt, ein Osterei ans andere peckt oder eine Kerze am Christbaum anzündet, muss nicht Christ sein, um als Tradition getarnt im Namen Jesu zu handeln.
Innsbrucks Industrielle Revolutionen
Innsbruck ist heute als Wirtschaftsstandort vor allem für Universität, Krankenhaus, Verwaltung und Tourismus bekannt. Das war nicht immer so. Im 15. Jahrhundert begann sich in Innsbruck eine erste frühe Form der Industrialisierung zu entwickeln. Glocken- und Waffengießer wie die Löfflers errichteten in Hötting, Mühlau und Dreiheiligen Betriebe, die zu den führenden Werken ihrer Zeit gehörten. Die Industrie änderten nicht nur die Spielregeln im Sozialen durch den Zuzug neuer Arbeitskräfte und ihrer Familien, sie hatte auch Einfluss auf die Erscheinung Innsbrucks. Die Arbeiter waren, anders als die Bauern, keines Herren Untertanen. Kapital von außen kam in die Stadt. Wohnhäuser und Kirchen entstanden. Die großen Werkstätten veränderten den Geruch und den Klang der Stadt. Die Hüttenwerke waren laut, der Rauch der Öfen verpestete die Luft.
Die zweite Welle der Industrialisierung erfolgte im Verhältnis zu anderen europäischen Regionen in Innsbruck spät. Angehörige des Kleinadels investierten das Geld, das sie nach 1848 als Ablöse für ihre Ländereien im Rahmen der Grundentlastung erhalten hatten, in Industrie und Wirtschaft. Landwirte ohne Land machten sich vom Umland auf nach Innsbruck, um dort Arbeit zu finden. 1838 kam die Spinnmaschine über die Dornbirner Firma Herrburger & Rhomberg über den Arlberg nach Pradl. H&R hatte ein Grundstück an den Sillgründen erworben. Der Platz eignete sich dank der Wasserkraft des Flusses ideal für die schweren Maschinen der Textilindustrie. Über 20 Betriebe nutzten den Sillkanal um 1900. Der Lärm und die Abgase der Motoren waren für die Anrainer die Hölle, wie ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1912 zeigt:
„Entrüstung ruft bei den Bewohnern des nächst dem Hauptbahnhofe gelegenen Stadtteiles der seit einiger Zeit in der hibler´schen Feigenkaffeefabrik aufgestellte Explosionsmotor hervor. Der Lärm, welchen diese Maschine fast den ganzen Tag ununterbrochen verbreitet, stört die ganz Umgebung in der empfindlichsten Weise und muß die umliegenden Wohnungen entwerten. In den am Bahnhofplatze liegenden Hotels sind die früher so gesuchten und beliebten Gartenzimmer kaum mehr zu vermieten. Noch schlimmer als der ruhestörende Lärm aber ist der Qualm und Gestank der neuen Maschine…“
Wie 400 Jahre zuvor veränderte auch die Zweite Industrielle Revolution die Stadt nachhaltig. Stadtteile wie Pradl und Wilten wuchsen rasant. Während sich die neue vermögende Unternehmerklasse Villen in Wilten, Pradl und dem Saggen bauen ließ und mittlere Angestellte in Wohnhäusern in den selben Vierteln wohnten, waren die Arbeiter in Arbeiterwohnheimen und Massenunterkünften untergebracht.
Im Alltag vieler Innsbrucker kam es nach dem Revolutionsjahr 1848 und den neuen Gegebenheiten zu einer noch stärkeren Verbürgerlichung der Gesellschaft. Innsbruck erfuhr eine Gentrifizierung wie man sie heute in angesagten Großstadtvierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin beobachten kann. Wie die Menschen die Verstädterung des ehemals ländlichen Bereichs erlebten, lässt uns der Innsbrucker Schriftsteller Josef Leitgeb in einem seiner Texte wissen:
„…viel fremdes, billig gekleidetes Volk, in wachsenden Wohnblocks zusammengedrängt, morgens, mittags und abends die Straßen füllend, wenn es zur Arbeit ging oder von ihr kam, aus Werkstätten, Läden, Fabriken, vom Bahndienst, die Gesichter oft blaß und vorzeitig alternd, in Haltung, Sprache und Kleidung nichts Persönliches mehr, sondern ein Allgemeines, massenhaft Wiederholtes und Wiederholbares: städtischer Arbeitsmensch. Bahnhof und Gaswerk erschienen als Kern dieser neuen, unsäglich fremden Landschaft.“
Der Wechsel vom bäuerlichen Leben des Dorfes in die Stadt beinhaltete mehr als einen örtlichen Wechsel. War der Grundherr am Land noch Herr über das Privatleben seiner Knechte und Mägde und konnte bis zur Sexualität über die Freigabe zur Ehe über deren Lebenswandel bestimmen, war man nun individuell zumindest etwas freier. Beda Weber schrieb dazu 1851:
„Ihre gesellschaftlichen Kreise sind ohne Zwang, es verräth sich schon deutlich etwas Großstädtisches, das man anderwärts in Tirol nicht so leicht antrifft."
Das bis dato unbekannte Phänomen der Freizeit kam auf und begünstigte gemeinsam mit frei verfügbarem Einkommen einer größeren Anzahl an Menschen Hobbies. Vereine aller Art entstanden. Parks wie der Englische Garten beim Schloss Ambras waren nicht mehr exklusiv der Aristokratie zugänglich, sondern dienten den Bürgern als Naherholungsgebiete. Neue Grünanlagen wie der Rapoldipark und der Waltherpark entstanden.
Die bestehenden Gräben zwischen Stadt und Umland vertieften sich, was teils bis heute zu bemerken ist. Wer von der Universitätsstadt Innsbruck in eines der nahen Seitentäler reist, findet eine vollkommen andere Welt vor. Angefangen mit dem gesprochenen Dialekt unterscheidet sich bereits das wenige Kilometer südlich von Innsbruck gelegene Stubaital stark von der Landeshauptstadt, ganz zu schweigen von den weiter entfernten Seitentälern wie dem Ötztal im Westen oder dem Zillertal im Osten Tirols.