Leopoldstraße & Wiltener Platzl

Leopoldstraße

Wissenswert

An der Ecke Leopoldstraße / Dr.-Karl-von-Grabmayr-Straße erinnert ein Wandbild aus den 1950er Jahren an das römische Militärlager Veldidena. Es lag direkt an der Auffahrt zur Via Raetia Richtung Brenner und würde heute von der Sill im Osten, dem Südring Norden und der Stafflerstraße im Westen begrenzt. Vier mächtige Wachtürme und eine über 2 m dicke Mauer begrenzten die Burg, in der mehr als 500 Soldaten stationiert waren. Rund um das Militärlager entstand ein Handelsstützpunkt, ein Dorf mit Schenke, Waffenschmideden, Ziegeleien und Handwerk. Das Land rund um Veldidena musste gerodet werden für die Nutztiere. Ausrüstung und Kleidung mussten hergestellt und repariert werden, die Männer verpflegt und unterhalten. 

Das Dorf Wilten rund um das Stift mit seinem Zentrum beim heutigen Gasthof Haymon wuchs auch nach der bairischen Übernahme des Inntals rege der Stadt Innsbruck entgegen. Lange bevor die Innsbrucker Hauptverkehrsachse Südring ab den 1960er Jahren gnadenlos das Stadtgebiet durchschnitt, entwickelte sich entlang der Leopoldstraße zwischen der Glockengießerei Graßmayr und der Triumphpforte eine Art mittelalterlicher Speckgürtel, aus dem im 19. Jahrhundert dank der Betriebe an der Kleinen Sill der am schnellsten wachsende Teil der heutigen Stadt Innsbruck werden sollte.

Mit dem Unteren Dorfplatz entstand schon im Mittelalter ein zweites Ortszentrum. Während im Stift und dem Leuthaus die offizielle Verwaltung erfolgte, spielte sich hier, wo heute Wiltener Platzl und Kaiserschützenplatz sind, das wirtschaftliche und zivile Leben ab. Händler und Reisende zogen von der Brennerstraße nach Innsbruck, um an der Zollstation bei der Triumphpforte ihren Obolus abzuliefern. Aus den Bauernhäusern, die sich rund um den Dorfbrunnen angesiedelt hatten, entwickelten sich entlang dieser Hauptverkehrsader im Lauf der Zeit bürgerliche Wohnhäuser, Adelssitze, Handwerksbetriebe und Geschäfte. Die Vielfalt der architektonischen Stile zeugt bis heute vom lebhaften Treiben durch die Jahrhunderte.

Das heutige Haus Leopoldstraße 27 beheimatete spätestens seit 1428 einen Hufschmied. Gemeinsam mit Hausnummer 25 bildet es ein wunderbares Beispiel für Wohnhäuser der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Architektur der Biedermaierzeit.

Gar bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt sich der Kern des gegenüberliegenden Hauses in der Leopoldstraße 30 und 32. Wo sich heute eine hippe Modeboutique und Wohnungen befinden, konnten Händler vor der Stadtgrenze Innsbrucks ihre Waren im Materialisten Ladele abladen und so die an der Zollstation bei der Triumphpforte zu erwartende Belastung verringern.

Das mit barocken Malereien geschmückte, quadratische Gebäude in der heutigen Liebeneggstraße 2 entwickelte sich gemeinsam mit dem Welsbergschlössl in der Leopoldstraße 35 im 15. Jahrhundert vom Bauernhof zum Ansitz Liebenegg. 1601 wurden die beiden Häuser als Freisitz bestätigt, zu dem auch ein Bauernhaus mit Anger gehörte. 1824 ließ der k.k. Gubernialregistrator den Ansitz Liebenegg auf vier Stockwerke erhöhen und in ein Mietshaus umbauen.

Etwas weiter Richtung Innenstadt befindet sich eines der urigsten Innsbrucker Gasthäuser. 1901 eröffneten die Trentiner Heinrich und Maria Steneck das Weinrestaurant Steneck. Sowohl der italienische Ministerpräsiden Alcide de Gasperi als junger Student wie auch Benito Mussolini sollen während ihrer Zeit in Innsbruck Spezialitäten und Wein aus ihrer Heimat genossen haben. Den Innsbruckern waren die Wallschen zwar lange nicht geheuer, die außergewöhnlich gute Gastronomie wurde trotzdem gerne angenommen. Generationen von Innsbruckern haben im Stenni, wie das mittlerweile in die Jahre gekommene Lokal liebevoll genannt wird, Schnitzel, Würstel und Pommes zu leistbaren Preisen genossen. Als Heinrich Steneck am 22. Dezember 1953 das Zeitliche segnete, nahmen die Innsbrucker Nachrichten im Namen der ganzen Stadt rührend Abschied vom Gründer dieser Institution.

Der steigende Verkehr seit den 1980er Jahren nahm dem ehemaligen Dorfzentrum seinen Charme. Erst mit der jüngsten Neugestaltung des Wiltener Platzls ist es gelungen, diesem geschichtsträchtigen Platz wieder zu attraktiveren. Der modern angelegte Dorfplatz mit Brunnen und Sitzgelegenheit wird als Treffpunkt von Anwohnern und Spaziergängern dankend angenommen. Zwischen den beiden Gebäuden des Ansitz Liebenegg befindet sich heute das moderne Gebäude, in dem der Stadtteiltreff Wilten, ein Angebot der Innsbrucker Sozialen Dienste untergebracht ist. Ihre Tradition als Handelszentrum außerhalb der Innenstadt setzen die Leopoldstraße und das Wiltener Platzl bis heute fort. Anders als andere Hauptstraßen der Randviertel florieren hier Geschäfte aller Art. Boutiquen, Ateliers und andere kleine Shops schaffen es, sich im jüngsten hippen Grätzel ebenso wie alteingesessene und neue Lokale am Wiltener Platzl zu behaupten. Auch der Wochenmarkt und im Advent ein kleiner Christkindlmarkt beleben die urbane Zone.

Innsbruck als Teil des Imperium Romanum

Das Inntal war natürlich nicht erst mit der der römischen Eroberung besiedeltes Gebiet. Die als wild, räuberisch und barbarisch beschrieben Alpenbewohner wurden von griechischen und römischen Schriftstellern mit dem bis heute in der Forschung recht diffusen Sammelbegriff „Raeter“ tituliert. Sich selbst bezeichneten diese Menschen wahrscheinlich nicht so. Heute versteht die Forschung unter dem Begriff Raeter die Einwohner Tirols, des unteren Engadin und des Trentino, dem Gebiet der Fritzens-Sanzeno Kultur, benannt nach ihren großen archäologischen Fundorten. Zweigeschossige Häuser mit Steinfundamenten, ähnliche Sprachidiome, Brandopferplätze wie der Goldbühel in Igls und Keramikfunde deuten auf einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund und wirtschaftlichem Austausch der Ethnien und Verbände zwischen Vorarlberg, dem Gardasee und Istrien hin. Auch zwischen diesen Raetern und Kelten im Westen oder Etruskern im Süden gab es Funden nach zu urteilen bereits vor den römischen Eroberungen regen Austausch.

Im Bereich des heutigen Innsbrucks lebten nach römischer Lesart die Breonen, ein Volksstamm innerhalb der Raeter. Diese Bezeichnung hielt sich auch nach dem Untergang des Imperium Romanum bis zur bairischen Besiedlung im 9. Jahrhundert. Es gab zwar keine Breonische Volksfront, das Zitat aus Life of Brian könnte so aber wohl auch im vorchristlichen Innsbruck gefallen sein:

„Mal abgesehen von der Medizin, den sanitären Einrichtungen, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und der allgemeinen Krankenkassen, was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan?“

Ein klimatisches Phänomen, das als Römisches Klimaoptimum in die Geschichtsschreibung einging, machte den Bereich nördlich der Alpen für das Imperium Romanum interessant und über die Alpenübergänge zugänglich. Aus strategischer Sicht war die Eroberung ohnehin überfällig. Die römischen Truppen in Gallien im Westen und Illyrien an der Adria im Osten sollten verbunden, Einfälle barbarischer Völker in oberitalienische Siedlungen verhindert und Wege für Handel, Reisende und Militär ausgebaut und gesichert werden. Das Inntal als wichtiger Korridor für Truppenbewegungen, Kommunikation und Handel am äußeren Rand des römischen Wirtschaftsraums musste unter römische Kontrolle gebracht werden. Der Verkehrsweg zwischen dem heutigen Seefelder Sattel und dem Brennerpass existierte bereits vor der römischen Eroberung, war allerdings keine befestigte, moderne Straße, die den Ansprüchen der römischen Anforderungen entsprach.

Im Jahr 15 vor der Zeitenwende eroberten die Feldherren Tiberius und Drusus, beide Stiefsöhnen Kaiser Augustus den Bereich des heutigen Innsbrucks. Drusus zog von Verona nach Trient und anschließend der Etsch entlang über den Brenner ins Gebiet des heutigen Innsbrucks. Dort kämpften die römischen Truppen gegen die lokal ansässigen Breonen. Bereits unter Augustus` Nachfolger Tiberius wurde die römische Administration ausgerollt. Dem Militär folgte die Verwaltung. Das heutige Tirol wurde am Fluss Ziller geteilt. Das Gebiet östlich des Ziller wurde Teil der Provinz Noricum, Innsbruck hingegen wurde ein Teil der Provinz Raetia et Vindielicia. Sie reichte von der heutigen Innerschweiz mit dem Gotthardmassiv im Westen bis zum Alpenvorland nördlich des Bodensees, dem Brenner im Süden und eben dem Ziller im Osten. Der Ziller als Grenze hat im kirchenrechtlichen Sinn bei der Einteilung Tirols bis heute Bestand. Das Gebiet östlich des Ziller gehört zum Bistum Salzburg, während Tirol westlich vom Ziller zum Bistum Innsbruck zählt.

Ob die Römer die Siedlungen und Kultplätze zwischen Zirl und Wattens während ihres Eroberungsfeldzuges zerstörten, ist unklar. Auch über den Umgang mit den Eroberten sind keine präzisen Quellen vorhanden. Die römischen Truppen griffen bei der Sicherung und Anlage der Verkehrswege mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Know-How der örtlichen Bevölkerung zurück. Heute würde man wohl sagen, dass nach der Übernahme mit wichtigen Human Resources bedächtig umgegangen wurde.

Die bald Via Raetia genannte Straße löste langsam, aber sicher die Via Claudia Augusta, die über den Reschen- und Fernpass Italien und Bayern verband, als wichtigsten Verkehrsweg über die Alpen ab. Im 3. Jahrhundert nach der Zeitenwende wurde die Brennerroute zur via publica ausgebaut. Etwas über fünf Meter breit verlief sie vom Brenner bis zur Ferrariwiese oberhalb Wiltens über den Berg Isel bis zum heutigen Gasthaus Haymon. Im Abstand von 20 bis 40 km Entfernung gab es Raststationen mit Unterkünften, Restauration und Ställen. In Sterzing, am Brenner, in Matrei und Innsbruck entwickelten sich bei diesen römischen Mansiones Dörfer, in denen sich die römische Kultur zu etablieren begann.

Über dieses Straßennetz war das Militärlager Castell Veldidena in einen Wirtschafts- und Ideenraum von Großbritannien über das Baltikum bis Nordafrika eingebunden. Die Römer brachten viele ihrer Kulturleistungen wie das kaiserliche Münzwesen, Glas- und Ziegelproduktion, die lateinische Sprache, Badhäuser, Thermen, Schulen und Wein mit über den Brenner. Römisches Recht und Verwaltung hielten Einzug. Über den Militärdienst im römischen Heer konnten Menschen sozial aufsteigen. Mit einem kaiserlichen Erlass des Jahres 212 wurden die breonischen Untertanen zu römischen Vollbürgern mit allen damit verbundenen Rechten und Pflichten.

Das wichtigste Überbleibsel des Imperium Romanum nach seinem Untergang war die Religion und das Gesellschafsmodell, das damit verbunden war. Nachdem das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion geworden war, wurde auch der Tiroler Raum missioniert. Die Heiligen des Christentums ersetzten die Vielgötterei. Alte Feste wie die Wintersonnwende, Erntedankbräuche oder der Frühlingsbeginn wurden in den christlichen Kalender integriert und von Weihnachten, Allerheiligen und Ostern ersetzt. Sagengestalten wie die Saligen Fräulein wurden von gläubigen Christen weiter parallel angebet. An die Stelle der vergöttlichten Römischen Kaiser traten Monarchie und Aristokratie. Der christliche Kirchenvater Paulus legte in seinem Römerbrief die theologische Basis für das Feudalwesen, das von der Kirchenkanzel ins Volk getragen wurde:

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht.

Im Stadtbild ist vom römischen Innsbruck kaum noch etwas vorhanden. Ausstellungsstücke sind im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum zu bewundern. In verschiedenen Ausgrabungsprojekten wurden rund um das heutige Stift Wilten Grabstätten und Überreste wie Mauern, Münzen, Ziegel und Alltagsgegenstände aus der römischen Zeit in Innsbruck gefunden. Der Kern des Leuthauses neben dem Stift geht auf die Römerzeit zurück. Einen der römischen Meilensteine der ehemaligen Hauptverkehrsader über den Brenner kann man in der Wiesengasse in der Nähe des Tivolistadions besichtigen.

Innsbrucks Industrielle Revolutionen

Innsbruck ist heute als Wirtschaftsstandort vor allem für Universität, Krankenhaus, Verwaltung und Tourismus bekannt. Das war nicht immer so. Im 15. Jahrhundert begann sich in Innsbruck eine erste frühe Form der Industrialisierung zu entwickeln. Glocken- und Waffengießer wie die Löfflers errichteten in Hötting, Mühlau und Dreiheiligen Betriebe, die zu den führenden Werken ihrer Zeit gehörten. Die Industrie änderten nicht nur die Spielregeln im Sozialen durch den Zuzug neuer Arbeitskräfte und ihrer Familien, sie hatte auch Einfluss auf die Erscheinung Innsbrucks. Die Arbeiter waren, anders als die Bauern, keines Herren Untertanen. Kapital von außen kam in die Stadt. Wohnhäuser und Kirchen entstanden. Die großen Werkstätten veränderten den Geruch und den Klang der Stadt. Die Hüttenwerke waren laut, der Rauch der Öfen verpestete die Luft.

Die zweite Welle der Industrialisierung erfolgte im Verhältnis zu anderen europäischen Regionen in Innsbruck spät. Angehörige des Kleinadels investierten das Geld, das sie nach 1848 als Ablöse für ihre Ländereien im Rahmen der Grundentlastung erhalten hatten, in Industrie und Wirtschaft. Landwirte ohne Land machten sich vom Umland auf nach Innsbruck, um dort Arbeit zu finden. 1838 kam die Spinnmaschine über die Dornbirner Firma Herrburger & Rhomberg über den Arlberg nach Pradl. H&R hatte ein Grundstück an den Sillgründen erworben. Der Platz eignete sich dank der Wasserkraft des Flusses ideal für die schweren Maschinen der Textilindustrie. Über 20 Betriebe nutzten den Sillkanal um 1900. Der Lärm und die Abgase der Motoren waren für die Anrainer die Hölle, wie ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1912 zeigt:

„Entrüstung ruft bei den Bewohnern des nächst dem Hauptbahnhofe gelegenen Stadtteiles der seit einiger Zeit in der hibler´schen Feigenkaffeefabrik aufgestellte Explosionsmotor hervor. Der Lärm, welchen diese Maschine fast den ganzen Tag ununterbrochen verbreitet, stört die ganz Umgebung in der empfindlichsten Weise und muß die umliegenden Wohnungen entwerten. In den am Bahnhofplatze liegenden Hotels sind die früher so gesuchten und beliebten Gartenzimmer kaum mehr zu vermieten. Noch schlimmer als der ruhestörende Lärm aber ist der Qualm und Gestank der neuen Maschine…“

Wie 400 Jahre zuvor veränderte auch die Zweite Industrielle Revolution die Stadt nachhaltig. Stadtteile wie Pradl und Wilten wuchsen rasant. Während sich die neue vermögende Unternehmerklasse Villen in Wilten, Pradl und dem Saggen bauen ließ und mittlere Angestellte in Wohnhäusern in den selben Vierteln wohnten, waren die Arbeiter in Arbeiterwohnheimen und Massenunterkünften untergebracht.

Im Alltag vieler Innsbrucker kam es nach dem Revolutionsjahr 1848 und den neuen Gegebenheiten zu einer noch stärkeren Verbürgerlichung der Gesellschaft. Innsbruck erfuhr eine Gentrifizierung wie man sie heute in angesagten Großstadtvierteln wie dem Prenzlauer Berg in Berlin beobachten kann. Wie die Menschen die Verstädterung des ehemals ländlichen Bereichs erlebten, lässt uns der Innsbrucker Schriftsteller Josef Leitgeb in einem seiner Texte wissen:

„…viel fremdes, billig gekleidetes Volk, in wachsenden Wohnblocks zusammengedrängt, morgens, mittags und abends die Straßen füllend, wenn es zur Arbeit ging oder von ihr kam, aus Werkstätten, Läden, Fabriken, vom Bahndienst, die Gesichter oft blaß und vorzeitig alternd, in Haltung, Sprache und Kleidung nichts Persönliches mehr, sondern ein Allgemeines, massenhaft Wiederholtes und Wiederholbares: städtischer Arbeitsmensch. Bahnhof und Gaswerk erschienen als Kern dieser neuen, unsäglich fremden Landschaft.“

Der Wechsel vom bäuerlichen Leben des Dorfes in die Stadt beinhaltete mehr als einen örtlichen Wechsel. War der Grundherr am Land noch Herr über das Privatleben seiner Knechte und Mägde und konnte bis zur Sexualität über die Freigabe zur Ehe über deren Lebenswandel bestimmen, war man nun individuell zumindest etwas freier. Beda Weber schrieb dazu 1851:

Ihre gesellschaftlichen Kreise sind ohne Zwang, es verräth sich schon deutlich etwas Großstädtisches, das man anderwärts in Tirol nicht so leicht antrifft."

Das bis dato unbekannte Phänomen der Freizeit kam auf und begünstigte gemeinsam mit frei verfügbarem Einkommen einer größeren Anzahl an Menschen Hobbies. Vereine aller Art entstanden. Parks wie der Englische Garten beim Schloss Ambras waren nicht mehr exklusiv der Aristokratie zugänglich, sondern dienten den Bürgern als Naherholungsgebiete. Neue Grünanlagen wie der Rapoldipark und der Waltherpark entstanden.

Die bestehenden Gräben zwischen Stadt und Umland vertieften sich, was teils bis heute zu bemerken ist. Wer von der Universitätsstadt Innsbruck in eines der nahen Seitentäler reist, findet eine vollkommen andere Welt vor. Angefangen mit dem gesprochenen Dialekt unterscheidet sich bereits das wenige Kilometer südlich von Innsbruck gelegene Stubaital stark von der Landeshauptstadt, ganz zu schweigen von den weiter entfernten Seitentälern wie dem Ötztal im Westen oder dem Zillertal im Osten Tirols.

Kunst am Bau: Die Nachkriegszeit in Innsbruck

Nach Ende des Krieges kontrollierten US-Truppen für zwei Monate das besetzte Tirol. Anschließend übernahm die Siegermacht Frankreich die Verwaltung. Stand man der Besatzungsmacht anfangs feindlich gesinnt gegenüber, schon wieder war ein Krieg verloren gegangen, wich die Skepsis der Innsbrucker mit der Zeit. Innsbruck hatte Glück, die Franzosen unter Emile Bethouart als Besatzungsmacht zu haben, waren sie doch sehr milde gegenüber dem ehemaligen Feind und begegneten der Tiroler Kultur und Bevölkerung freundlich und aufgeschlossen.

Die Soldaten waren vor allem bei den Kindern beliebt wegen der Schokoladen und Süßigkeiten, die sie verteilten. Viele Menschen bekamen innerhalb der französischen Verwaltung Arbeitsstellen. Manch ein Tiroler sah dank der Uniformierten zum ersten Mal dunkelhäutige Menschen. Am Emile-Bethouart-Steg, der St. Nikolaus und die Innenstadt über den Inn verbindet, befindet sich eine Gedenktafel, die die Beziehung zwischen Besatzung und Bevölkerung gut zum Ausdruck bringt:

„Als Sieger gekommen.

Als Beschützer geblieben.

Als Freund in die Heimat zurückgekehrt.“

Die Versorgungslage war vor allem in der Stadt in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr schlecht. Viele Innsbrucker machten sich am Weg in die umliegenden Dörfer, um zu hamstern. Wer Geld hatte, bezahlte teils utopische Preise bei den Bauern, wer keins hatte, musste um Nahrungsmittel betteln. Erst mit der Einführung der Lebensmittelbezugsmarken veränderte sich die Situation etwas.

Mindestens gleich schlecht war die Wohnsituation. Geschätzte 30.000 Innsbrucker waren obdachlos, lebten auf engstem Raum bei Verwandten oder in Barackensiedlungen wie dem ehemaligen Arbeitslager in der Reichenau, in der vom Volksmund „Ausländerlager“ genannten Barackensiedlung für Vertriebene aus den ehemals deutschen Gebieten Europas oder der Bocksiedlung. Weniges erinnert noch an den desaströsen Zustand, in dem sich Innsbruck nach den Luftangriffen der letzten Kriegsjahre in den ersten Nachkriegsjahren befand. Zehntausende Bürger halfen mit, Schutt und Trümmer von den Straßen zu schaffen. Die Maria-Theresien-Straße, die Museumstraße, das Bahnhofsviertel, Wilten oder die Pradlerstraße wären wohl um einiges ansehnlicher, hätte man nicht die Löcher im Straßenbild schnell stopfen müssen, um so schnell als möglich Wohnraum für die vielen Obdachlosen und Rückkehrer zu schaffen.

Viele der ab den 1950er Jahren errichteten Gebäude sind zwar architektonisch wenig attraktiv, sie beherbergen aber durchaus interessante Kunstwerke. Ab 1949 gab es in Österreich das Projekt Kunst am Bau. Bei staatlich durchgeführten Bauten sollten 2% der Gesamtausgaben in die künstlerische Gestaltung fließen. Die Umsetzung des Baurechts und somit auch die Verwaltung der Budgets oblag damals wie heute den Bundesländern. Über diese öffentliche Auftragsvergabe sollten Künstler finanziell unterstützt werden. Erstmals tauchte die Idee 1919 in der Weimarer Republik auf und wurde ab 1934 von den Nationalsozialisten fortgesetzt.

Österreich griff Kunst am Bau nach dem Krieg auf, um den öffentlichen Raum im Rahmen des Wiederaufbaus zu gestalten. Die öffentliche Hand, die Aristokratie und Bürgertum als Bauträger vergangener Jahrhunderte ablöste, stand unter massivem finanziellem Druck. Trotzdem sollten die vor allem auf Funktion ausgerichteten Wohnbauprojekte nicht ganz schmucklos daherkommen.

Die mit der Gestaltung der Kunstwerke betrauten Tiroler Künstler wurden in ausgeschriebenen Wettbewerben ermittelt. Der bekannteste unter ihnen ist wohl Max Weiler, der vielleicht prominenteste Künstler im Tirol der Nachkriegszeit, der in Innsbruck unter anderem für die Fresken in der Theresienkirche auf der Hungerburg verantwortlich war. Weitere prominente Namen sind Helmut Rehm (1911 – 1991), Walter Honeder (1906 – 2006), Fritz Berger (1916 – 2002) und Emmerich Kerle (1916 – 2010).

Die Biografien der Künstler wurden nicht nur von der Gewerbeschule Innsbruck (Anm.: heutige HTL Trenkwalderstraße) und der Akademie der Bildenden Künste in Wien als häufig gemeinsamem Nenner, sondern auch von der gemeinsamen Erfahrung des Nationalsozialismus geprägt. So hatte Fritz Berger im Krieg seinen rechten Arm und ein Auge verloren und musste lernen, mit der linken Hand zu arbeiten. Emmerich Kerle wurde an der Akademie der Bildenden Künste in Wien unter anderem von Josef Müllner unterrichtet, einem Künstler, der sich mit Büsten Adolf Hitlers, Siegfrieds aus der Nibelungensage und dem bis heute umstrittenen Karl-Lueger-Denkmal in Wien in die Kunstgeschichte eingetragen hatte. Kerle diente in Finnland als Kriegsmaler.

Wie ein großer Teil der Tiroler Bevölkerung wollten auch Politiker, Beamte und die Künstler nach den harten und leidvollen Kriegsjahren Ruhe und Frieden, um Gras über das Geschehen der letzten Jahrzehnte wachsen zu lassen. Das Befreiungsdenkmal am Platz vor dem ehemaligen Gauhaus am heutigen Landhausplatz war dafür nicht ideal.

Die im Rahmen von Kunst am Bau entstandenen Werke reflektieren diese Haltung. Es war das erste Mal, dass abstrakte, gestaltlose Kunst Eingang in den öffentlichen Raum Innsbrucks fand, wenn auch nur in unkritischem Rahmen. Märchen, Sagen, religiöse Symbole waren beliebte Motive, die auf den Sgraffitos, Mosaiken, Wandbildern und Statuen verewigt wurden. Noch 1955 betrachtete sich jeder zweite Österreicher als Deutscher. Die Kunst sollte ein neues Bewusstsein und Bild dessen schaffen, was als typisch Österreichischen galt. Die unterschiedlich ausgeführten Motive zeigen Freizeitaktivitäten, Kleidungsstile und Vorstellungen der sozialen Ordnung und gesellschaftlichen Normen der Nachkriegszeit. Frauen wurden häufig in Tracht und Dirndl, Männer in Lederhosen dargestellt. Geschlechterrollen wurden in der Kunst verarbeitet. Fleißig arbeitende Väter, brave Ehefrauen, die sich um Haus und Herd kümmerten und Kinder, die in der Schule eifrig lernen waren das Idealbild bis weit in die 1970er Jahre.

Das Problem an dieser Strategie des Verdrängens war, dass niemand die Verantwortung für das Geschehene übernahm, auch wenn vor allem zu Beginn die Begeisterung und Unterstützung für den Nationalsozialismus groß war. Scham über das, was seit 1938 und in den Jahren in der Politik Österreichs geschehen war mischte sich zur Angst davor, von den Besatzungsmächten USA, Großbritannien, Frankreich und die UDSSR als Kriegsschuldiger ähnlich wie 1918 behandelt zu werden. Es entstand ein Klima, in dem niemand, weder die daran beteiligte noch die nachfolgende Generation über das Geschehene sprach. Trauma und Scham verhinderten lange die Aufarbeitung. Es gab kaum eine Familie, die nicht mindestens ein Mitglied mit einer wenig rühmlichen Geschichte zwischen 1933 und 1945 hatte.

Der Mythos von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, der erst mit der Affäre Waldheim in den 1980er Jahren langsam zu bröckeln begann, war geboren. Polizisten, Lehrer, Richter – sie alle wurden trotz ihrer politischen Gesinnung an ihrem Platz gelassen. Die Gesellschaft brauchte sie, um am Laufen zu bleiben.

Ein Beispiel mit großem Bezug zu Innsbruck ist die Vita des Arztes Burghard Breitner (1884-1956). Er wuchs in Mattsee in einem wohlbetuchten bürgerlichen Haushalt auf. Die Villa Breitner war Sitz eines Museums, das den deutschnationalen Dichter Josef Viktor Scheffel zum Thema hatte, den sein Vater sehr verehrte. Nach dem Gymnasium entschied sich Breitner gegen eine Karriere in der Literatur und für ein Medizinstudium. Anschließend beschloss er seinen Militärdienst und begann seine Karriere als Arzt. 1912/13 diente er als Militärarzt im Balkankrieg. 1914 verschlug es ihn an die Ostfront, wo er in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Erst 1920 sollte er als Held und „Engel von Sibirien“ aus dem Gefangenenlager wieder nach Österreich zurückkehren. 1932 begann seine Laufbahn an der Universität Innsbruck. 1938 stand Breitner vor dem Problem, dass er auf Grund des jüdischen Hintergrundes seiner Großmutter väterlicherseits den „Großen Ariernachweis“ nicht erbringen konnte. Auf Grund seines guten Verhältnisses zum Rektor der Uni Innsbruck und zu wichtigen Nationalsozialisten konnte er aber schlussendlich an der Universitätsklinik weiterarbeiten. Während des NS-Regimes war Breitner als Vorstand der Klinik Innsbruck für Zwangssterilisierungen und „freiwillige Entmannungen“ verantwortlich, auch wenn er wohl keine der Operationen persönlich durchführte. Nach dem Krieg schaffte er es mit einigen Mühen sich durch das Entnazifizierungsverfahren zu winden. 1951 wurde er als Kandidat des VDU, einem politischen Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialisten, als Kandidat für die Bundespräsidentschaftswahl aufgestellt. 1952 wurde Breitner Rektor der Universität Innsbruck. Nach seinem Tod widmete ihm die Stadt Innsbruck ein Ehrengrab am Westfriedhof Innsbruck. In der Reichenau ist ihm in unmittelbarer Nähe des Standortes des ehemaligen Konzentrationslagers eine Straße gewidmet.

Bis heute sind Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit in Innsbrucks Stadtbild kaum Thema. Eine 1972 enthüllte Bronzetafel am ehemaligen Hauptquartier der Gestapo in der Herrengasse, der Landhausplatz und ein Denkmal in der Reichenau an der Stelle des damaligen Arbeitslagers sind drei der spärlich gesäten Erinnerungsorte, wobei der Landhausplatz mit Ausnahme der Menora als Denkmal für die Novemberpogrome kaum als solcher wahrgenommen wird.

Wer den Tiroler Kunstkataster durchforstet und aufmerksam durch die Stadt geht, findet viele der noch heute sichtbaren Kunstwerke auf Häusern in Pradl und Wilten. Die Mischung aus absolut reizloser Architektur und zeitgenössischen Kunstwerken der gerne verdrängten, in Filmen und Erzählungen lange idealisierten und verklärten Nachkriegszeit, ist sehenswert. Besonders schöne Beispiele finden sich an den Fassaden in der Pacherstraße, der Hunoldstraße, der Ing.-Thommenstraße, am Innrain, der Landesberufsschule Mandelsbergerstraße oder im Innenhof zwischen Landhausplatz und Maria-Theresienstraße.