Soziale Schutzarbeit
Erschienen: Innsbrucker Nachrichten, 29.11.1906
Über diesen Text...
Der „Jugendfürsorgeverein für Tirol“ engagierte sich bereits früh für die Belange benachteiligter Jugendlicher. Der moderne Ansatz, wonach vom rechten Wege abgekommene Jugendliche, als Produkt ihrer Umwelt gesehen werden, überrascht, denkt man das Erscheinungsdatum des Artikels mit.
Der Artikel
Eine verständnisvolle Sozialpolitik wird ihr Augenmerk immer auch auf jene Jugendlichen richten, die ein hartes Los an den Rand des Abgrundes gedrängt hat, in dessen Untiefen so viele die Beute moralischer Verderbnis und oft auch körperlicher Verkümmerung geworden sind und leider immer noch werden. Ein Kind auf Abwegen, ein Jugendlicher aus der Bahn des Verbrechens — ein Menschenleben gefährdet, ein ganzes Menschenleben verloren! Und der schon jung verkommene Mensch ist schwer mehr zu retten, am allerwenigsten mit Kerker und Zwangsarbeitshaus.
Seine Einreihung als nützliches Glied in die Gesellschaft stößt zuvörderst auf den unüberwindlichen Widerstand, daß das Aufkommen sittlicher Begriffe von frühester Jugend an niedergehalten wird jedes Gefühl für dieselben brutal abgestumpft wurde. Aus der Bahn einer ehrlichen Lebensführung geworfen, findet der Mensch selten mehr aus eigener Kraft den Weg zurück zu seinem Heil. Seiner Verführung erliegen oft auch noch Gutgeratene und die Spur seiner Lebensbahn zeichnen Freveltaten aller Art. Versichern wir uns deshalb der Jugend, die Gefahr lauft, ohne Obsorge der menschlichen Gesellschaft verloren zu gehen, so gut wir können; wir nützen uns damit selbst und verdienen den Dank der Nachwelt.
Mit Freude und Genugtuung werden Volksfreunde daher immer die Kunde von dem unermüdlichen Wirken auf diesem Gebiete der sozialen Hilfstätigkeit begrüßen. Eine solche Kunde dringt nun wieder in die Öffentlichkeit. In raschem Tempo erhöht sich die Zahl der vom „Jugendfürsorgeverein für Tirol“ in Schutz und Obhut übernommenen Jugendlichen. Nunmehr sind es deren bereits 800. Jeder Fall erhellt aus der Eigenart der Umstände, die zum Einschreiten des Vereines nötigen, ein verschiedenartiges Gepräge der Jugendverwahrlosung und Jugendgefährdung. Trunksucht, Unmoralität, Leichtsinn und sträfliche Gleichgültigkeit gegenüber der verantwortlichen Pflicht eines Erziehers kehren in allen ihren Abstufungen als die hauptsächlichsten Grunderscheinungen wieder, die zum frühen Ruin eines großen Teiles unserer Jugend führen. Nicht selten stößt man auch auf Fälle von Kindermißhandlungen. Sie bilden einen entehrenden Schandfleck unserer sich auf der Höhe der Kultur und Zivilisation fühlenden Zeit, denn der Mißbrauch der souveränen Eltern- und Erzieherrechte Kur Unmenschlichkeit gegen das schutz- und wehrlose Kind muß doch auch das härteste Gefühl empören.
Endlich sind es nicht wenige Jugendliche, welche dem verderblichen Einfluß von außen, dem bösen Beispiel und der Verführung erliegen. Bedrängte Lebensverhältnisse nötigen ja oft Buben und Mutter zugleich, dem Nährungsbetriebe nachzugehen, und so ist das Kind daheim sich selbst überlassen und entbehrt der Fürsorge im Vaterhaus. Was Wunder, daß die verkehrten Triebe im jungen Herzen mit der Üppigkeit des Unkrautes emporschießen.Der Hinweis auf die Hunderte der Schutzbefohlenen des Jugendfürsorgevereines, so betrüblich er die Tatsache des aufgedeckten Volksübels illustriert, umfließt andernteils doch die Gewißheit, daß dem um sich greifenden Verderben wirksam Einhalt geschieht. Hat die schützende Hand des Vereines den jungen Menschen erreicht, so erscheint er gerettet, sich selbst und der menschlichen Gesellschaft erhalten und zurückgegeben.
Aber der Erfolg wird nicht mühelos errungen. Versuch um Versuch ist daran zu setzen, um das Ziel zu erreichen. Nur in wenigen Fällen blieb bisher der gewünschte Erfolg aus. Hoffentlich bringt auch die Zukunft die Wandlung zum Besseren.Wie jeder Krieg, benötigt aber auch der Kampf gegen die Jugendentartung und Jugend Verwilderung. Geld und wieder Geld. Tausende von Kronen verschlingen vierteljährig die Kosten der Unterbringung der Vereinspfleglinge. Aber es ist doch die beste und rentabelste Kapitalsanlage, die sich denken läßt: Die Rettung der Jugend ist das überreichliche Entgelt aller gemachten Opfer. Die Erkenntnis des Nutzens, der von der Wirksamkeit des Jugendfürsorgevereines ausgeht, führt ihm aber auch immer mehr Freunde und Gönner aus dem ganzen Lande zu. Ihrer Unterstützung dankt es der Verein, daß er an seinem Werk unverdrossen weiterarbeiten kann.Wenn die Zukunft ihm neue Scharen von Hilfsbedürftigen bringt, so wird sich auch stetig die Zahl derer mehren, die nach dem Maß ihrer Mittel zum gemeinnützigen Rettungswerke beisteuern. Jeder neue Appell an die öffentliche Mildherzigkeit wirb immer weiter gehört werden.
„Geh auch du nicht mitleidslos vor über an dem Unglück deines jungen Nebenmenschen!“